Analysen . Berichte . Gespräche . Essays


Thomas Freitag

Die stillen Stars und ihre Lieder

Funktion und Stellenwert von Kinderliedern und Kinderliedermachern

 

Mißverständnisse

Neue und neueste Kinderlieder - nie ist so viel für Kinder angeboten worden wie heute. Es existiert ein umfänglicher Kindermusikmarkt, die Zahl der Kinderliedermacher wächst permanent, sie alle bedienen ein großes Kinder- und oft Erwachsenenpublikum. Viele Labels bauen ihr „Kinderprogramm“ aus, andere eröffnen mit sicherem Gespür ein solches Angebot. Im vergangenen Jahr beschäftigte sich ein Kongreß in Hamburg mit dem Kinderlied, eine Interessenvertretung gründete sich, und nächste Initiativen sind in Vorbereitung. Das neuere deutsche Kinderlied gibt es seit einem Vierteljahrhundert: Es waren jene im Gefolge der 68er-Bewegung stehenden Künstler, die mit großem visionärem Anspruch bis dahin tabuisierte Themen wie Arbeit, Erziehung, Schule, Sexualität, Politik über das Lied transportierten.

Heute gibt es wieder andere Ansprüche, aber nicht minder bedeutsame Themen, gleichfalls die bangen Fragen: Wie sind Werte definiert? Wie erfolgreich darf jemand sein, der für Kinder (und mit ihnen) singt? Welche Gesichter der Infantilität hat eine Gesellschaft? Was ist alles erlaubt im gigantischen Kindermusik-Supermarkt?

Mißverständnisse sind bei Erklärungsversuchen zu „Kinderlied“ und „Kinderliedermachern“ vorprogrammiert. Eben weil das „Kinderlied“ eine historisch determinierte Kategorie seit Ende des 18. Jahrhunderts ist, weil die Bindung an pädagogischen Gebrauch immer vorhanden war und „Kinderlied“ sich im 20. Jahrhundert totalitärer und indoktrinärer Handhabe nicht entziehen konnte, ist der Genrebegriff obsolet geworden.

Seit 200 Jahren besitzt das Kinderlied eine Gebrauchs- und zugleich Mißbrauchsgeschichte, darüber hinaus eine Mißverstehensgeschichte. Ungewöhnlich war schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, daß z. B. Johann Friedrich Reichardt als Kapellmeister dreier Preußenkönige weitblickend auch Lieder „fürs schöne Geschlecht“, „für gute deutsche Mütter“, „für die Jugend“, „für Kinder“ schrieb.

Neben Wolfgang Amadeus Mozarts beispielhaften Leistungen im Opernschaffen (und in anderen Gattungen) gibt es die Weise „An den May“ (Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün) und andere Lieder für Kinder. „Große“ Musik und „kleine“ Gattung müssen aus geschichtlicher Sicht nicht notwendig auseinanderfallen. Warum eine Musikenzyklopädie den Gattungsbegriff „Kinderlied“ nicht erklärt, bleibt unverständlich.

Umfänglich und bis heute läßt sich das Kinderlied im Mißbrauch politischer Macht dokumentieren. Noch 1988 erschienen als „Lieder für Vorschulkinder“ in der ehemaligen DDR Gesänge, die den Stolz aufs Soldatsein und den Waffendienst zum Inhalt hatten.

Weil Kinderliedermacher offenbar um die problemgeladene Geschichte ihres Genres wissen, meiden sie den Begriff Kinderlied. Eher wollen sie weniger gehaltvolle Angebote auf CD, MC oder per Buch „Alte, schöne Kinderlieder“, „Unsere schönsten Kinderlieder“, „Die ganze Welt der Kinderlieder“ usw. offerieren. Die Kinderliedermacher stellen phantasievoll u. a. „Lieder aus dem Kinderland“ (G. Schöne), „Zuhör- und Mitmachlieder“ (K. W. Hoffmann), „Lieder für fröhliche Füße und neugierige Ohren“ (F. Vahle), „Lieder, die wie Brücken sind“ (R. Zuckowski) dagegen.

Wer sind aber die Kinderliedermacher, wie verstehen sie sich selbst?

Kinderliedermacher - den Ausdruck gibt es in keinem Nachschlagewerk. Die Interpreten selbst empfinden diese Bezeichnung oft als unzutreffend, weil sie meistenteils auch auf Erwachsenenliedgut verweisen können und in Konzerten für Kinder auch Erwachsene erreichen. Rolf Zuckowski dazu: „Es gibt keine Kinderliedermacher im engeren Sinn des Wortes, ebensowenig wie es Erwachsenenliedermacher gibt. „Klein und Groß leben miteinander, und es kann beim Liedermachen höchstens persönliche Schwerpunkte geben“ (ders. Hamburger Dokumentation, S 47; nachfolgend: Hamdok genannt). Auch die Altersfrage und die Identifikation mit Kindern und jungen Eltern stellt sich immer wieder. Auffallend ist, daß sehr wenige Frauen als Liedermacherinnen hervortreten, sonst aber sind es zuerst die Mütter, die mit ihren Kindern Konzerte wahrnehmen.

Für Erwachsene schreibende Liedermacher werden so peinlich wie die Kinderliedermacher nicht nach ihrer Zielgruppenstrategie gefragt (vgl. Vahle, Fredrik, ebd. S. 48).

Es geht um ein Vierteljahrhundert

Als Anfang der 70er Jahre zeitkritische neue Kinderlieder erschienen, konnte niemand ahnen, daß hier eine Zäsur des kinderkulturellen Bewußtseins und Schaffens entstehen würde. Fredrik Vahle (Jg. 1942) war frühzeitig als studierter Germanist darum bemüht, in den Folgejahren der 68er Studentenbewegung sich vom konservativen Kinderlied zu entfernen und vor allem selbst neue Lieder zu schaffen. Die ersten für die damalige Zeit kritisch-realistischen Kinderlieder sind auf der inzwischen legendär gewordenen und bis heute anerkannten alternativen Schallplatte „Die Rübe“ (1973) veröffentlicht. Die Zeit um 1973 ist in vielerlei Hinsicht ein Schlüsseljahr für die Manifestation des neuen deutschen Kinderliedes. Nicht nur Vahle hatte als Kenner der engagierten kinderkulturellen Leistungen von Christian Morgenstern, Paula und Richard Dehmel, Joachim Ringelnatz oder Bertolt Brecht - Vahle vertonte selbst Brecht-Texte - die notwendigen Schlüsse gezogen für eine Neuorientierung im diffus erscheinenden Feld der Kinderlyrik. Peter Rühmkorf wandte sich mit „Erkundungen in den literarischen Untergrund“ (1969) dem alternativen, subversiven und unterdrückten Kindervers zu, und es erschien 1973 der erste Band der Forschungen „Studien zur Befreiung des Kindes“ von Erst Bornemann. Das literarisch-musikalische Erfolgsteam Volker Ludwig und Birger Heymann vom Berliner GRIPS-Theater stand schon Anfang der 70er Jahre im Kreuzfeuer herrschender Politik, bis heute aber spielt das Theater mit außerordentlichem Erfolg. Im 1973er Stück „Doof bleibt doof“ für „Menschen ab 8“ heißt es im Refrain des Liedes „Doof gebor’n wird keiner“:

Doof gebor’n ist keiner,
doof wird man gemacht,
und wer behauptet: doof bleibt doof,
der hat nicht nachgedacht.
(in der Wiederholung: „vor dem nehmt euch in acht!)

Die klassenkämpferisch-euphorische Singelust der frühen 70er Jahre, die von der Vorstellung getragen war, den politischen Status quo zu ändern und in den X. Weltfestspielen samt dem „Festival des Politischen Liedes“ (Berlin/Ost) eine internationale Dimension erreichte, ist in ihrem Ausmaß kaum zu überschätzen. In jener Zeit existierten in der DDR 4407 Singeklubs, ausländische Besucher sprachen mit Blick auf die Liedbewegung vom „roten Woodstock“ (Kirchenwitz 1993, S. 61 ff.). Daß dies alles auf das „Kinderlied“ durchschlug, versteht sich von selbst. Als treffendstes Beispiel hierfür kann Dieter Süverkrüps Lied „Baggerfahrer Willibald“ angeführt werden. In kindgemäßer Art und Weise gab dieses Lied plausible Einsichten in gesellschaftliche und machtpolitische Zusammenhänge und ist ein nicht unwesentliches Zeugnis bundesdeutscher und deutsch-deutscher Geistesgeschichte. Süverkrüp (West) sang 1973 auf dem Berliner Festival (Ost) dieses Lied.

Heute bekannte Kinderliedermacher, u. a. Detlef Hörold, Klaus W. Hoffmann, Dorothée Kreusch-Jacob, Reinhard Lakomy, Ulrich Maske, Robert Metcalf, Gerhard Schöne, Fredrik Vahle, Rolf Zuckowski starteten in dieser Zeit ihre Karriere oder erinnern lebhaft das damalige Zeitgeschehen. Klaus W. Hoffmann: „... oft waren da einige mehr vom Barrikadenkampf inspiriert als vom Musikmachen“ (Gespräch mit dem Autor).

Vahle, Vordenker und gutes Gewissen des neuen Kinderliedes, zu Recht wird er auch „Klassiker und Revolutionär in deutschen Kinderzimmern“ (PATMOS) genannt, brachte nach „Die Rübe“ mit „Der Fuchs“ (1976), „Der Spatz“ (1979) und „Der Elefant“ (1981) maßstabsetzende Produktionen in das Kindermusikgeschehen ein. Ist die 1976er Platte noch ganz durchdrungen von politischen Visionen einer gerechteren und besseren Welt, nehmen beim „Spatz“ fiktive, humoristische Themen und Gestalten breiteren Raum ein. Die Platte „Der Elefant - Lieder in unserer und eurer Sprache“ widmete sich der Problematik der Integration ausländischer Kinder. Es werden Lieder anderer Länder und Interpretationen in anderen Sprachen vorgestellt. Im Namenssong der CD balanciert ein Elefant auf einem Spinnennetz. Es sind zwei, drei, schließlich neun Elefanten, die abwechselnd in deutsch, spanisch, italienisch, serbokroatisch, griechisch, türkisch und portugiesisch singen. Vom tastenden Baßgang des ersten Elefanten steigert sich auch musikalisch alles zum ausgelassenen Tanzvergnügen. Der Balanceakt gelingt, das Netz hält, alle legen sich zum Schnarchkonzert nieder.

Auch Rolf Zuckowski begann in jener Zeit mit seiner musikalischen Laufbahn. Seine damalige Nähe zum Schlager und die Orientierung an Stilistiken der Rock- und Popmusik übertrugen sich bald auch auf seine Kinderlieder. Bei Zuckowski - einziger Kinderliedermacher, der auch vom Schlagerlexikon geführt wird - waren es die eigenen Kinder, die ihn zu seinem heute bekannten Schaffen inspirierten. Der „König der Kinderzimmer“ (FOCUS Nr. 53/1998) ist den meisten Kindern bekannt. Zuckowskis „Vogelhochzeit“ (1977), geschrieben nach einem Bildzyklus, hat sich in seiner Kindgemäßheit und seinem eingängigen Arrangement schnell durchgesetzt. Von da an konnte Zuckowski geradlinig Erfolge verbuchen, mehrere Produktionen wurden mit goldenen Schallplatten ausgezeichnet.

Eine historisch-dokumentarische Leistung stammt aus den Jahren 1976/77: Wolf Biermann sang in Berlin (Ost) intelligente Lieder für Menschenkinder aufs Band. Alle diese witzigen, hinterfotzigen, lustigen und anspruchsvollen Lieder und Geschichten stehen in geistiger Wahlverwandtschaft zum Schaffen B. Brechts und H. Eislers. Sie wurden nach der Ausbürgerung Biermanns auf der Schallplatte „André Francoise“ veröffentlicht. Viel, sehr viel mutet der Sänger da den Kindern zu und kommentiert: „Fragen, Fragen, Fragen, Fragen. Fragen kostet ja nichts, sagte der tote Mann zum Polizisten.“ (Cover-Text; CBS, 1977)

An der Schwelle zu den 80er Jahren ist es dann nur konsequent, daß das Kinderlied von den Medien und der Tonträgerindustrie vollständig entdeckt und freilich auch verkauft wurde. Zuckowskis „Du da im Radio“ (1981) konnte seinen durchschlagenden Erfolg erreichen, weil in der Darstellung von kindlicher Neugier produktiv und spaßig zugleich - hier in der fiktiven Rede und Gegenrede zwischen Kind und Radiomacher - ein Stück Erwachsenenwelt erobert wurde. Mit diesem Lied, das Technik (Radio) von ihrem Fetischcharakter befreite, Grenzen des Erwachsenen- und Kindseins durchbrach und glaubhaft interpretiert wurde, etablierte sich zum ersten Male ein Kinder-Hit auf dem Markt.

Viele Entwicklungen sind seitdem zu verzeichnen. Heute werden in starkem Maße Lieder und Spiele favorisiert, die Bewegung, Bewegungsvielfalt und -training, den gesunden Ausgleich zwischen Ruhe und Aktion, Kopf und übrigem Körper zum Ziel haben.

FÜR Kinder, VON Kindern, MIT Kindern

Wer für Kinder singt, übt einen der schönsten Berufe aus, und er trägt Verantwortung. Schnell merken Kinder, wenn sich Erwachsene offen und ehrlich musikalisch mitteilen, dabei Spaß und Freude, Phantasie und Neugier angeregt werden. Detlev Jöcker formuliert: „Nur wenn der Künstler 100% gibt, ist es auch möglich, die Zuhörer 100prozentig zu begeistern.“ (Hamdok., S. 25)

Andererseits sind von Erwachsenen ausgehende Gefahren der musikalischen Kindertümelei und Gängelei vielfach möglich. Inakzeptabel und höchst bedenklich ist es, zeittypische Erwachsenenpsychologien - „Emotionen ausdrücken“, „Muskeln lockern“, „aufgestaute Energien ausdrücken“, „befreiende Tiefenatmung“, „positives Denken trainieren“, „Edukinetische Übungen“, „Aktivierung von Akupunkturpunkten“ - auf Kinder übertragen zu wollen. Kindern muß nicht die vollständige psychopathologische Kaputtheit von Erwachsenen vermittelt werden. Pseudopoetische Reime und psychologische Entgleisungen, wie sie Lore Kleikamp mit „Mein Ohrenrand ist supertoll! Er hilft mir ohnegleichen. Ich brauche ihn nur dann und wann, behutsam auszustreichen...“ passiert sind, sollten offen kritisiert werden.

Das eigene Kindsein dagegen in sich selbst wachzuhalten und als „innere Kindheit“ zu entdecken, erscheint als ein sinnvoller Weg des kindbezogenen Schaffens. Vielleicht ist der Typus des „Kinderliedermachers“, der mit den Kindern freundschaftlich-vertraut umzugehen versteht, geschichtlich gerade deshalb entstanden, weil durch die politischen, pädagogischen und ideologischen Restriktionen in diesem Jahrhundert der jungen Generation beinahe alles an militaristischem, chauvinistischem, nationalistischem, sozialistischem, psychologischem Ideengut zugemutet worden ist. Die Volks- und Kinderliederbücher liefern dafür viele Beispiele.

Die Auseinandersetzung um angemessenen, kindgemäßen und wahrhaftigen Ausdruck im Schreiben und Komponieren FÜR Kinder hat sinnvoll auch zu kalkulieren, was VON Kindern eingebracht wird. Was Kinder unter sich als „Lied“ und „Musik“ bezeichnen, ist nicht notwendig dasselbe, was Erwachsene darunter verstehen.

Die FÜR/VON-Dipolarität war schon den Literaten Jakob und Wilhelm Grimm bewußt, sie erklärten „Kinderlied“ als: „Lied, wie es die Kinder singen oder wie es den Kindern gesungen und für sie gedichtet wird.“

Live-Szene, Medienplatz, Tonträger

Mit Kindern zu singen gehört zur täglichen Arbeit zahlloser Lehrerinnen und Lehrer, Pädagogen und Erzieher. Sie erarbeiten Lieder und gestalten das Singen, geben Liedern erst durch gute Sanglichkeit und hohe Aussagekraft ihren Wert. Auch wenn im eigentlichen Sinne des Wortes keine neuen Lieder geschaffen werden, sind hier Lieder-Macher mit einer oft erstaunlichen Kreativität tätig. Neue Lieder hervorzubringen und sie vor Kindern zu interpretieren ist etwas völlig anderes. Und noch einmal anders ist es, wenn jemand Lieder für Kinder verkauft.

Seit den Erfolgen der professionellen Kinderliedermacher ist die regionale Live-Szene des Kindermusikmachens stetig angewachsen. Das zeigt sich an kursierenden MCs oder CDs des sogenannten grauen Marktes. In den Medien Fernsehen und Radio sind Kinderlieder kaum von Bedeutung, weil grundsätzlich Kinder als Konsumentengruppe zahlenmäßig zu gering sind, keine zufriedenstellenden Einschaltquoten erreicht werden (ganz abgesehen davon, daß Kinder selbst in den Medien kaum vorkommen). Darüber hinaus wären Kinderlieder in Funk und Fernsehen bestimmten Zwängen ausgesetzt, z. B. müßten die Lieder in den dramaturgischen Ablauf passen, sie sollten ihrer Art nach „Geschichtenlieder“ sein, wichtig wäre ein eingängiger Refrain und - im Fernsehen - die angemessene Visualisierung. Es sind also deutliche Grenzen gesetzt. Das Radio ist für viele Kinder nur ein Nebenbei-Medium. Mit Zeitportionierungen von fünf, höchstens zehn Minuten wird um Sendeplätze und Sendeanteile geworben. Die Kinderradiosendungen „Jetzt geht’s los“ (BR), „Kakadu“ (DeutschlandRadio Berlin), „Domino“/Minibits“/“Max und Musik“ (HR), „Krims Krams Kraxel“ (MDR), „Mikado“ (NDR), „Zappelduster“ (ORB), „8 Punkt 5 - Zeit für Kinder“/“Kinder & Co.“/“Zebra 4“ (RB), „RabenEi“/“Tacheles“/“Hast du Töne“ (SR), „Ohrenbär“ (SFB), „Abendgeschichten“/“Pinguin - die Sendung mit dem Frack“/“Dschungel für Kinder“ (SWR), „Liliputz“/“Leseputz“/“Max Blubber“/“Papageno“ (WDR) stellen gelegentlich neue Kinderliedproduktionen vor, müssen aber auch darauf bedacht sein, Kinder an möglichst breite Musikinteressen heranzuführen. Mit ähnlichen Problemen hat das Kinderfernsehen zu tun. Der 1997 erfolgreich von ARD und ZDF gestartete Kinderkanal wird ob seiner Akzeptanz und Programmpolitik geschätzt und als „national und international deutlich wahrgenommene Leistung“ (ARD-Jahrbuch 1998, S. 49) gewertet. Im Wettbewerb mit den kommerziellen Anbietern sind Qualitätsdebatten auch in Zukunft wichtig, und bei Musikangeboten ist die Frage der kulturellen Identität immer naheliegend.

Nach Auskunft von D. Jöcker ist der Großteil aller Kinderlied-MC-Verkäufe auf wenige Künstler beschränkt. Jöcker selbst hat ca. 4,5 Mio. Platten umgesetzt (vgl. Jöcker-Pressemappe). R. Zuckowskis jährliche Tonträgerumsätze belaufen sich seit 1994 auf etwa 1 Mio. Stück. Der Kindertonträgermarkt (Kinderlieder, Hörspiele) hat - auf den gesamten deutschen Musikmarkt bezogen - einen Anteil von 3%. Dies ist vergleichsweise mehr als die Anteile von Volksmusik und Jazz zusammengenommen. Die Umsätze an Kindertonträgern belaufen sich auf derzeit 176 Mio. DM jährlich (vgl. FOCUS 53/1998).

Kinder stark machen - kein Mißverständnis

Der Ende 1998 in Hamburg veranstaltete Kinderlied-Kongreß hatte unter anderem zum Ergebnis, daß Liedermacher, die zwar genau ihr Publikum kennen, aber untereinander kaum Verbindung hatten, sich kennenlernen konnten. Etwa 150 Liedermacher, Theatermusiker, Chorleiter, Pädagogen, Medienvertreter, Journalisten und Mitarbeiter von Verlagen und Schallplattenfirmen kamen zusammen, um sich über das Kinderlied auszutauschen und Lieder in Workshops und Konzerten vorzustellen.

„Kinder stark machen“, so lautete das Motto zum Lied-Wettbewerb des Kongresses. Diese von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geförderte Kampagne hatte u. a. folgende Ziele: das Selbstbewußtsein von Kindern zu stärken, ihnen bei der Sinnsuche und -erfüllung des Lebens behilflich zu sein, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit zu festigen, die Lernfähigkeit im produktiven Umgang mit Ängsten und Frustrationen zu entwickeln, Phantasie, Kreativität und Erlebnisfähigkeit so zu stabilisieren, daß eigenes Handeln und die Steuerung von Wünschen möglich werden. So war angezeigt, daß positive kinderkulturelle Entwicklungen befördert und verteidigt werden müssen. Der Produzent und Liedermacher Ulrich Maske zählt zu den Prämissen, auf die sich die Aktiven leicht verständigen könnten, z. B. Gewaltfreiheit, interkulturelle Erziehung, Ablehnung von Diskriminierung jeder Art (Hamdok., S. 31). Eine Jury hatte schließlich aus 71 eingesandten Titeln auszuwählen, und nach langer Entscheidungsfindung wurde den Bielefelder „Löffelpiraten“ für ihr fröhliches Lied „Kinder Kinder nee“ der Preis zuerkannt.

Kinder stark zu machen - dieser Anspruch reicht bis in künstlerische Sujets hinein. Eine abwegige Vorstellung ist es beispielsweise zu glauben, daß Kinder durch tendenziell immer aufwendiger und raffinierter werdende Sounds und Produktionen so verwöhnt sind, daß ihre Aufmerksamkeit mit relativ einfachen sprachlichen, musikalischen und gestischen Mitteln nicht mehr erlangt werden könnte. Es wäre fatal, auf Reizüberflutung mit „noch mehr“ im Kindermusikbereich reagieren zu wollen.

Rund 100 Jahre nach Erscheinen des Buches Das Jahrhundert des Kindes der schwedischen Frauenrechtlerin Ellen Key sollte einer der dort formulierten Grundsätze in die Realität umgesetzt werden. Er heißt: „Die Kinder haben das Recht, nicht für die Fehler und Irrtümer ihrer Eltern leiden zu müssen.“ (ebd. S. 84 f.)

Literatur:

-Hamburger Dokumentation: Dokumentation zum 1. Kinderlied-Kongreß; hg. von KinderKinder e. V., Hamburg 1998

-Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (Dietz Verlag), Berlin 1993

-Hoffmann, Klaus W.: Gespräch mit dem Autor (18. 11. 1998)

-FOCUS: Nachrichtenmagazin, Nr. 53/1998, München

-Biermann, Wolf: Der Friedensclown, Lieder für Menschenkinder (CBS, 1977)

-Grimm, Jakob und Wilhelm: Stichwort „Kinderlied“, in: Das Deutsche Wörterbuch, 1854 ff.

-ARD-Jahrbuch 1998: hg. von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der BRD, Frankfurt/M. 1999

-Jöcker, Detlev: Pressemappe, Münster 1998

-Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1903

-Rühmkorf, Peter: Über das Volksvermögen: Exkurse in den literarischen Untergrund, Hamburg 1969

-Borneman, Ernest: Studien zur Befreiung des Kindes (3 Bde.), Freiburg/Br. 1973 ff.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite