Eine Annotation von Horst Wagner


Bahr, Egon:Der Nationalstaat: Überlebt und unentbehrlich

Steidl Verlag, Göttingen 1998, 60 S.

 

Ein interessanter Auftakt für eine neue Schriftenreihe, der man künftig Aufmerksamkeit schenken sollte. Bahrs Studie erscheint als Nr. 1 der „Brandt-Hefte“, herausgegeben vom Willy-Brandt-Kreis, dem neben dem Autor u.a. die Schriftsteller Günter Grass, Christa Wolf und Daniela Dahn, der Theologe Friedrich Schorlemmer, der Publizist Günter Gaus, „Emma“-Chefredakteurin Alice Schwarzer sowie der polnische Journalist und frühere Ministerpräsident Mieczyslaw Rakowski angehören. Es ist ein Kreis, der, wie es in seinem Gründungsaufruf heißt, „sich der Haltung Willy Brandts verbunden weiß, der bekanntlich links von der Mitte gestanden und Zeit seines Lebens versucht hat, die Kluft zwischen Macht und Geist etwas schmaler zu machen“. Der Titel des Büchleins geht insofern nicht recht auf, als Bahr für die Überlebtheit des Nationalstaates keinen, für seine heutige Unentbehrlichkeit aber vielerlei Beweise anführt. Ohne eine Entwicklungsgeschichte oder gar eine Definition der Nation geben zu wollen, stellt Bahr die Nationalstaaten im ersten Kapitel als notwendige Gegenmacht zur unkontrollierten Globalisierung durch die internationalen Monopole dar und sieht ihre entscheidende Rolle darin, „den Primat der Politik wieder herzustellen“ (S.13). Im zweiten Kapitel betrachtet er die Nationalstaaten als „Bausteine Gesamteuropas“. Am Beispiel der osteuropäischen Länder entwickelt er die These, daß „der nationalstaatliche Faktor in den nächsten zehn Jahren des Erweiterungsprozesses stärker und nicht schwächer wird“ (S. 22). Die Einführung des Euro als einen „Zwang zum Wagnis“ begrüßend, spricht er die Hoffnung aus, „daß dem eine kapitalismusbändigende gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik folgen werde“ (S. 35). Das dritte Kapitel ist deutsch-deutscher Zeitgeschichte und Gegenwart gewidmet. Davon ausgehend, daß nach 1945 „beide Deutschländer“ den Ordnungen ihrer jeweiligen Sieger angepaßt wurden und sich diesen angepaßt haben, zeigt Bahr, wie sich dabei zwar nicht zwei Nationen, aber zwei unterschiedliche Kulturen, zwei sehr verschiedene Lebens- und Wertegemeinschaften entwickelt haben. „Die Deutschen in der DDR konnten mit Genugtuung und Stolz auf ihre Leistungen sehen, die unter schwierigsten Bedingungen erreicht wurden.“ (S.43) Deshalb sollten wir „statt glattmacherischer Einheitlichkeit nachzujagen... Einigkeit über die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Lebensleistungen anstreben“ (S. 45). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang seine Feststellung, daß die Namen Pieck und Ulbricht ebenso zur neueren deutschen Geschichte gehören wie die Namen Heuss und Adenauer (S. 46f). Eine potentielle Gefahr für die Demokratie in Deutschland sieht Bahr „nur von rechts, im Westen nicht weniger als im Osten“, und fordert, zur Bekämpfung des Rechtsextremismus „die Angleichung der Lebensbedingungen, den Abbau von Ungerechtigkeiten mit überzeugenden Schritten in Angriff zu nehmen“ (S. 31). Auf Artikel 146 des Grundgesetzes Bezug nehmend, nennt es Bahr „offen und zu vollenden, daß über seine Verfassung das souveräne Staatsvolk abstimmt“. Er sieht darin ein Vorhaben, das in der laufenden Legislaturperiode bis zum Jahr 2002 erfüllbar wäre. Eine dazu notwendige Verfassungsdiskussion könne nach seiner Meinung „eine einigungsstiftende Wirkung zwischen Ost und West haben“ (S. 52).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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