Eine Annotation von Eberhard Fromm


Böttiger, Karl August: Literarische Zustände und Zeitgenossen

Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar.
Herausgegeben von Klaus Gerlach und René Sternke.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 601 S.

 

Will man dieses Buch tatsächlich lesen und nicht nur durchblättern, benötigt man Zeit und Muße. Denn was hier von einem Zeitgenossen Goethes, Schillers, Herders und Wielands zusammengetragen wurde, verdient es, in Ruhe genossen, aber auch verarbeitet zu werden.

Karl August Böttiger (1760-1835) stammte aus dem Vogtland, besuchte Schulpforta, studierte seit 1778 in Leipzig, arbeitete dann als Hofmeister in Dresden, als Rektor in Schulen in Guben und Bautzen, bis er durch Vermittlung Herders 1791 nach Weimar kam, wo er bis 1804 als Rektor des Gymnasiums und Oberkonsistorialrat wirkte. Zuletzt leitete er in Dresden eine Ausbildungsstätte junger Edelleute.

Böttiger, der als einer der besten Kenner des Altertums galt, war neben seiner pädagogischen Arbeit auf vielen Gebieten aktiv. Hervorzuheben sind sein umfangreicher Briefwechsel, vor allem aber seine journalistische Tätigkeit. So gab er von 1794 bis 1808 den „Neuen Teutschen Merkur“ heraus und wirkte an anderen Zeitschriften mit. Sein in Weimar gesammeltes Material über Gespräche mit Persönlichkeiten des geistigen Lebens der Stadt war sicher seinem journalistischen Interesse, vielleicht auch größeren Plänen geschuldet. Veröffentlichungen, die zu seinen Lebzeiten darauf beruhten, haben ihm aber viel Ärger eingebracht, da die von ihm beschriebenen Personen - von Goethe bis Schelling, von Herder bis Hegel - mit seiner Darstellung zumeist nicht einverstanden waren. Erst nach seinem Tod gab sein Sohn 1838 eine größere zweibändige Sammlung von Texten heraus, die jedoch bereits damals geschönt und verstümmelt worden war. So muß denn René Sternke in seinem Vorwort feststellen, daß der vorliegende Text hier zum erstenmal vollständig veröffentlicht wird.

Unter den Gestalten des Weimaraner kulturellen Lebens, die in Böttigers Aufzeichnungen eine zentrale Rolle spielen, ragt Christoph Martin Wieland besonders heraus. Mit ihm war Böttiger befreundet, hier reichen die Einträge von 1794 bis 1804 und bereichern jede Wieland-Biographie um viele Details und wertvolle inhaltliche Aussagen über das eigene Schaffen, aber auch über seine Zeitgenossen Goethe, Schiller, Herder, Jean Paul und andere. Ob in der direkten Wiedergabe von Aussagen oder in breiterer Erzählung, immer ist Böttiger um Genauigkeit der Wiedergabe bemüht, auch wenn es nicht gerade populäre Feststellungen betrifft, wie z. B. die Meinung Wielands, daß man als Gelehrte und Büchermacher eigentlich zu nichts nutze sei: „Wir Gelehrte sehn uns für viel zu wichtig an. Wir sind Drohnen und Faulthiere im Bienenstock!“ (S. 169)

Wenn auch der Teil zu Wieland das Kernstück des Bandes darstellt - nicht zuletzt vom Quantitativen her (S. 134-283) -, so ist man natürlich als Leser auch und gerade an den Mitteilungen über Goethe, Schiller und Herder besonders interessiert. Eine zentrale Aussage betrifft Goethes Dichtung „Hermann und Dorothea“, mit der sich Böttiger auf Bitten Goethes intensiv befaßt hat.

Einen eigenständigen Teil bilden die Notizen über Madame de Staël (1766-1817), die sich 1804 in Weimar aufhielt. Hier gewinnt man Einsicht in die Arbeits- und Denkweise der französischen Schriftstellerin bei ihrer Materialsammlung zu ihrem Buch über Deutschland. Zu den weiterhin behandelten Personen zählen Verleger, Schriftsteller und Maler wie Georg Joachim Göschen (1752-1828), Johann Heinrich Voß (1751-1826) und Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812).

Indem in den Aufzeichnungen Böttigers nicht nur Ansichten einzelner Persönlichkeiten über sich, ihr Schaffen und ihre Zeit, sondern auch über andere Zeitgenossen, über die Beziehungen zueinander, über die gesellschaftlichen Verhältnisse usw. enthalten sind, entsteht ein lebendiges Sittenbild des tatsächlichen Lebens in dieser Zeit, weder geschönt durch Rücksichtnahme auf große Namen noch literaturkritisch geglättet oder mit subjektiven Ausdeutungen versehen. Es ist also nicht Klatsch und Tratsch, der hier über die Großen von Weimar verbreitet wird, obwohl das natürlich auch dazu gehört. Es ist ein Einblick in das wirkliche Leben dieser großen Kleinstadt Weimar in ihrer „klassischen“ Phase.

Ein solider Apparat erleichtert auch dem weniger in der Literaturgeschichte bewanderten Leser die Lektüre.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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