Eine Rezension von Volker Strebel


Schreiben gegen die Zeit

Donald M. Thomas: Solschenizyn

Propyläen Verlag, Berlin 1998, 672 S.

 

Die Veröffentlichung eines Schwarzbuchs des Kommunismus hat nicht nur in Frankreich zum Ende des Jahrhunderts eine lebhafte Debatte über die mögliche Vergleichbarkeit brauner und roter Diktaturen ausgelöst. Ein deutscher Schriftsteller urteilte in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, daß dieses Schwarzbuch eine Grenze überschreite, „nicht nur, indem es auch den Eisenbahner, der sich auf der Baikal-Amur-Magistrale eine Grippe holt, zu den Opfern des Kommunismus rechnet“. Wer auch nur annähernd mit der Wirklichkeit vertraut ist, dem wird solcher Zynismus stellvertretend für seinen Vertreter die Schamröte ins Gesicht treiben.

Die vorliegende Biographie des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn gewährt zugleich eine gute Möglichkeit, sich einen seriösen Zugang in die Geschichte Rußlands des 20. Jahrhunderts zu verschaffen. Mit Solschenizyns großem Epos Der Archipel Gulag erreichte die ungeheuerliche Wirklichkeit eines gigantischen Lagersystems die Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt. Jedoch war die Solschenizyn-Rezeption gerade auch in Deutschland vom Kalten Krieg der ideologischen Gegnerschaft geprägt. Weil Wohlstandsbürger, zugegeben oft in schwelgerischer Arroganz, diese Entlarvung des Kommunismus feierten, verwünschten die ewigen Verbesserer einer verdorbenen Welt paradoxerweise den Entlarver. Die pubertäre Logik einer wohlversorgten Generation mißbilligte jeden, der Spießern einen Grund zur Freude lieferte. Vor dem Hintergrund der brutalen Wirklichkeit des real existierenden Gulag präsentierte sich die erschreckende Selbstbezogenheit einer Gartenzwergidylle.

Donald M. Thomas, ein Kenner der russischen Literatur, erzählt in packender Form das Leben des Alexander Solschenizyn nach, ohne daß die gute Recherchearbeit den Erzählfluß beeinträchtigt. Einfühlsam und ohne falsche Vergötterei. Diese monumentale Biographie stellt Zusammenhänge dar und vermag einen neuen, verblüffend aufregenden Blick auf das Schicksal und Schaffen Solschenizyns freizulegen.

Was für ein Leben! In Ostpreußen wird in den letzten Kriegsmonaten der erfolgreiche Batteriechef einer Artillerieeinheit überraschend von Smersch-Offizieren, einer militärischen Spionageabwehrorganisation, festgenommen. Dieselbe Abteilung übrigens, die auch Major Lew Kopelew um diese Zeit verhaftet - später werden sich ihre Haftwege kreuzen. Aus dem lebensfrohen Leninisten Solschenizyn wird binnen weniger Minuten ein Niemand. Unvermittelt werden ihm seine Dekorationen und Schulterstücke abgerissen: „Im Morgengrauen wurde er, umringt von Maschinengewehren, in einen verschneiten Hof voller Fäkalien geführt und erhielt Befehl: ,Schnell scheißen!‘.“

Donald M. Thomas erzählt von elf schrecklichen Jahren, die Solschenizyn insgesamt in Lagern und Gefängnissen zugebracht hat. Der Biograph bemüht sich darüber hinaus, den ganzen Menschen Alexander Solschenizyn in seiner Widersprüchlichkeit zu beschreiben. Das Verhältnis zur Ehefrau Natascha, welcher der Häftling immer wieder die Scheidung nahelegt, da er „ihre Jugend zerstöre“. Als sie die Scheidung, kurz vor seiner Entlassung, tatsächlich veranlaßt, ist Solschenizyn dennoch wie vor den Kopf gestoßen. Es folgt eine einsame Zeit der Verbannung im kasachischen Bezirk Kok-Terek. Solschenizyn schlägt sich als Lehrer durch.

Einer späteren Wiederannäherung an Natascha folgen einige glückliche Jahre, geprägt von Solschenizyns ungezügeltem Arbeitseifer. Seit seiner Entlassung und der überraschenden Genesung von einer Krebsoperation in der Verbannung schreibt Solschenizyn gegen die Zeit an. Er fühlt es als seine Aufgabe, den zum Schweigen Gebrachten seine Stimme zu leihen. Überraschend gelingt es Alexander Twardowskij, dem Leiter der sowjetischen Literaturzeitschrift „Nowy Mir“, Solschenizyns Lagerroman Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch zu veröffentlichen. Solschenizyn gerät in die öffentliche Auseinandersetzung. Freunde und Feinde melden sich zu Wort. Oft zieht sich Solschenizyn für Monate in unzugängliche Hütten zum Schreiben zurück. Die Entfremdung von Natascha ist nicht mehr aufzuhalten. Solschenizyn ist bereits an die Fünfzig, als ihm seine zweite Frau den ersten Sohn schenkt. Doch die siebziger Jahre sind nicht nur in privater Hinsicht turbulent. Der Bruch mit dem Sowjetregime steht unmittelbar bevor, und 1970 erreicht ihn in Moskau die Nachricht, daß ihm der Literaturnobelpreis zugesprochen wird. Nach einer erneuten, kurzen Verhaftung wird Solschenizyn am 14.2.1974 in den Westen, nach Frankfurt/M., abgeschoben.

Im kanadischen Vermount vergräbt sich Solschenizyn siebzehn Jahre in seinem stachel-drahtgesicherten Anwesen, um 1992 nach Rußland zurückzukehren. Für immer, wie er betonte!

Die Kunst, die Grausamkeit des Lebens in eine Literatur zu überführen, die vor dem Unsäglichen nicht kapituliert - Solschenizyn ist sie in den besten seiner Werke gelungen. Über die Jahrzehnte reifte in ihm ein Plan, der als Samenkorn bereits während seiner Armeezeit in ihm arbeitete: eine umfassende Darstellung der Geschichte Rußlands in diesem Jahrhundert zu Papier zu bringen. Einladend wirkt dieses gigantische Werk nicht, aber wer den Schritt hinein wagt, ist nicht verloren - auch wenn ihn die Lektüre gefangennimmt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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