Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Wirkliches und Eingebildetes

Daniel Pipes: Verschwörung
Faszination und Macht des Geheimen.

Aus dem Amerikanischen von Gerhard Beckmann.

Gerling Akademie Verlag, München 1998, 359 S.

 

Daniel Pipes hat eine wissenschaftliche Darstellung von Realität und Imagination der Verschwörung vorgelegt, einen wertenden historischen Abriß, Beschreibung und Analyse zugleich. Der Autor selbst gibt sich bescheiden, spricht von einem Essay, dem Versuch einer Deutung, er biete „keine wissenschaftliche Studie“. Dies ist, in den USA eher unüblich, gutes englisches Understatement. Das - jedenfalls umfassende - Essay liest sich wie ein Geschichtsbuch, das auf einen Punkt fokussiert ist. So kommt Pipes, und das ist schon der einzig wesentliche kritische Einwand, in die Nähe des Gedankens, die Weltgeschichte als eine Geschichte tatsächlicher oder eingebildeter Verschwörungen zu sehen oder sie im wesentlichen darauf zu reduzieren. Jedenfalls wird diese Idee suggeriert, sicherlich unabsichtlich.

Tatsächlich war und ist auch heute die Vorstellung weit verbreitet, im gesellschaftlichen Leben und speziell in der Politik könnten geheime Absichten, obskure Bündnisse, verdeckten Zielen nachgehende Organisationen eine tragende Rolle, ja sogar die entscheidende Rolle spielen. Die Vorstellung wird genährt durch die Tatsache, daß es seit Jahrhunderten immer wieder Verschwörungen gegeben hat, die den Gang der Geschichte an einem bestimmten Abschnitt beeinflußt haben. Dabei wird oft außer acht gelassen, daß ein Komplott eigentlich stets der sichtbare Ausdruck und, wenn es zum Tragen kam, auch Endpunkt einer vorangegangenen gesellschaftlichen Entwicklung gewesen ist. Pipes räumt diesem Aspekt kaum Raum ein, sein „Essay“ ist anders angelegt, wäre auch überfordert, wollte man bei einem über die Jahrhunderte feststellbaren Phänomen auch noch die Hintergründe erörtert verlangen.

Der Autor, und darin liegt wohl sein wesentliches Verdienst, schafft in der Fülle der Erscheinungen gewissermaßen Ordnung, indem er die schon angedeutete Unterscheidung trifft, nämlich zwischen einer Verschwörung und einer Verschwörungstheorie, wie er formuliert, also zwischen einem nachweisbaren Vorgang, der wirklichen Verschwörung, und einer eingebildeten, die, so wollen wir hinzufügen, oft zu weltgeschichtlich oder regionalhistorisch fatalen Folgen führt.

Pipes stellt treffend fest: „Man kann Winston Churchills Warnungen vor einer Nazi-Verschwörung in den 30er Jahren und Hitlers gleichzeitiges irres Gerede von einer jüdischen Verschwörung nicht gleichermaßen behandeln.“ (Hier hätte der Übersetzer eher „gleichsetzen“ oder „gleich behandeln“ verwenden sollen; insgesamt aber ist die Übertragung eines so komplizierten und scharfsinnig dargelegten Stoffes eine bedeutende Leistung.) Ordnung schafft der Autor auch dadurch, daß er dem interessierten, nicht einschlägig vorgebildeten Leser einige Denkhilfen anbietet. So nennt er als Werkzeuge zum Identifizieren von Verschwörungstheorien: gesunder Menschenverstand, Geschichtskenntnis und die Fähigkeit, „die ausgeprägten Schemata des Verschwörungsdenkens zu erkennen“.

Im ersten von neun Kapiteln führt uns Pipes an Beispielen in die Gegenwart seines eigenen Landes: „Verschwörungstheorien - die Angst vor Verschwörungen, die überhaupt nicht existieren - haben in den USA Blütezeit.“ Schon dieses Kapitel ist eine glänzende Studie. Ihr folgen die Klärung von Schlüsselbegriffen und tragenden Ideen sowie die für das ganze Buch essentielle Unterscheidung von realen und eingebildeten Verschwörungen. Auch hier ist, wie insgesamt, die einfache, verständliche Sprache kennzeichnend: „Schließlich enthalten Verschwörungstheorien etliche immer wiederkehrende Grundvoraussetzungen. Das ZIEL IST MACHT. Alles andere ist illusorisch.“

Danach bietet der Autor eine Entlarvung der Verschwörungstheorie, einen Blick auf Ursprünge bis 1815, auf die Blützeit bis 1945 und auf Erscheinungen nach 1945, auf Traditionen des Verschwörungsdenkens, ein m. E. besonders gelungenes Kapitel, auf „rechte Spinner“, „ linke Kultursnobs“ sowie den Preis des Verschwörungsdenkens, eigentlich ein Fazit mit einer hier - aber nur hier - vielleicht zulässigen Nebeneinanderstellung Lenins und Hitlers (außerhalb der USA ist man in diesem Punkt sicherlich wesentlich sensibler). Ein dreigeteilter Anhang - zum Antisemitismus und über „Stalins wunden Punkt“, zwei hervorragende Betrachtungen sowie Quellen zum Thema via Internet - schließen den Textteil ab.

Das ausführliche Sachregister reicht von Ärztekomplott über Orden der (bayerischen) Illuminaten bis Muslime und Weltverschwörungstheorien. Die Anmerkungen umfassen allein 35 Seiten. Im Namensregister tauchen mehr als 400 Personen auf. Die für das Buch zu Rate gezogene oder erwähnenswerte Literatur zu dem einen einzigen Thema, Verschwörung im weitesten Sinne, dürfte einer Privatbibliothek zu hoher Ehre gereichen. Der Autor spricht selbst von einer „Riesenfülle des Materials über Verschwörungsdenken“. Hier ist es zum wesentlichen Teil gleichsam durchs Sieb gegossen, aufbereitet, um analytische Deutungen bereichert.

Daniel Pipes ist speziell ausgewiesener Sachkenner zu Verschwörungstheorien im Nahen Osten (dazu sein Buch The Hidden Hand). Er leitet in Philadelphia das Institut Middle East Forum. Die Tatsache, daß ihm zehn namentlich genannte Forschungsassistenten beim Beschaffen und Aufbereiten des Materials geholfen haben, deutet auf sehr potente Sponsoren des Instituts. Man darf sicher sein, daß die strategischen Interessen der USA in diesem erdölreichsten Gebiet der Erde auch großzügige Forschungsmittel fließen lassen, von denen man in vielen anderen Ländern nur träumen darf.

In einem Punkt kann man dem Insider Pipes allerdings nicht folgen. Er spricht von „paranoiden Vorstellungen“ von Gamal Abdel Nasser, Ayatollah Khomeni und Saddam Hussein, ohne dies näher zu begründen (für Nasser ist die Wertung sicherlich unzutreffend), und meint etwas dunkel: Ihre Angst vor Komplotten leitete sich größtenteils aus europäischen und amerikanischen Quellen her, war kein „originäres Phänomen“. Hierzu sei der Hinweis gestattet, daß alle drei durch originäre - ägyptische, iranische und irakische - Verschwörungen an die Macht kamen, daß Nasser einer Verschwörung zum Opfer fiel, deren Hintergründe wenigstens zum Teil originär ägyptisch waren, daß schließlich Saddam durch eine originär irakische Verschwörung beseitigt werden soll, die zwar erst auf dem Papier existiert, aber jedenfalls von den USA finanziert wird. Das immerhin ist längst publik, und insofern leidet Saddam (wie immer man zu diesem Diktator stehen mag) keineswegs unter Wahnvorstellungen. In einem Punkt allerdings sind die drei gleichzusetzen: Sie waren sämtlich selbst Verschwörer, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen. Und wer selbst Verschwörer war, fürchtet die Verschwörung besonders. Solche psychologischen Deutungen kommen bei Pipes historisch angelegten Überlegungen zu kurz.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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