Eine Rezension von Herbert Mayer


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Welche Deutung hat unser Jahrhundert?

 

Jens Mecklenburg/Wolfgang Wippermann (Hrsg.): „Roter Holocaust“?
Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus.

Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1998, 296 S.

 

Vorliegender Band ist nicht alltäglich, sondern die Reaktion auf ein anderes Buch. Er ist Resultat und Zeichen der intensiven, aber oft oberflächlich geführten Debatten, die das Schwarzbuch des Kommunismus seit Ende 1997 ausgelöst hat. Die beiden Herausgeber und 15 weitere Autoren aus drei Ländern (Deutschland, Frankreich und den USA) wollen mit einer Streitschrift gegen das Schwarzbuch des Kommunismus angehen. Ihnen insgesamt eine Apologetik des Kommunismus zu unterstellen oder sie als prokommunistische Antidemokraten darzustellen wäre wohl falsch. Auch wenn der Grad und die Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Schwarzbuch unterschiedlich ist, stellenweise auch eine „parteiliche“ Verteidigung kommunistischer Repressionen durchschimmert, so werden im ganzen kommunistische Verbrechen nicht geleugnet oder verschwiegen. Kritisiert wird aber am Schwarzbuch, daß die kommunistischen Verbrechen darin nicht überzeugend bewiesen, nur beschrieben und nicht in den jeweiligen historischen Zusammenhang gestellt werden.

Die Kontroversen um das Schwarzbuch, so betonen die Autoren mit Recht, ist eine Debatte um die Deutung dieses Jahrhunderts. Sie wollen ihre Sicht auf die Auseinandersetzung dokumentieren, diese vertiefen und fortführen. Ihr Anliegen ist, einer Diskreditierung des Antifaschismus und einer Delegitimierung der Linken durch das Schwarzbuch entgegenzutreten. Sie wenden sich insbesondere gegen das Totalitarismusschema, dagegen, daß Faschismus und Kommunismus gleichgesetzt werden und der Kommunismus schrecklicher als der Faschismus dargestellt wird. Hervorgehoben wird, daß ein angebliches kommunistisches Klassengenozid nicht auf eine Stufe mit dem faschistischen Rassengenozid gestellt werden kann.

Der Band gliedert sich in vier, inhaltlich nicht zu trennende Komplexe, in denen - mit unterschiedlicher Überzeugungskraft - methodologische Mängel und sachliche Fehler des Schwarzbuchs aufgezeigt werden. Der Abschnitt „A) Autoren, Inhalt, Reaktionen“ enthält Beiträge von Bernhard Schmidt, Wolfgang Wippermann, Andreas Dietl und Stefan Vogt. Sie geben einen Überblick über die öffentlich geführte Diskussion um das Schwarzbuch in Frankreich und Deutschland, dokumentieren und verfolgen diese und setzen sich mit verschiedenen Argumenten und Bewertungen auseinander.

Im folgenden Abschnitt „B) Methodische Kritik“ befassen sich die Autoren David Bensaid, Wolfgang Wippermann, Mario Keßler und Brigitte Huhnke mit Methoden und Grundpositionen des Schwarzbuchs. Sie widersprechen der These, daß die bolschewistische Revolution grundsätzlich aus einer verbrecherischen Idee hergeleitet war, und treten dagegen auf, sie pauschal zu verurteilen. Insbesondere Wippermann hält die Totalitarismustheorie für keinen geeigneten „Analyserahmen“. Keßler belegt, im Unterschied zum Schwarzbuch bzw. der Mehrheit seiner Autoren, daß es d e n Kommunismus nicht gab, und verweist auf dessen Differenziertheit.

Der prinzipiellen, methodologischen Kritik am Schwarzbuch folgt im Abschnitt „C) Einzelkritik“ die kritische Analyse seiner einzelnen Kapitel und Länderdarstellungen. Jens Mecklenburg befaßt sich mit der von Autoren des Schwarzbuches vertretenen Auffassung, daß Antifaschismus eine kommunistische Ideologie sei, während Roland Lew und Maurice Lemoine den Veränderungen und Kontinuitäten des Kommunismus in China und Lateinamerika nachgehen. Vehement wenden sich Mecklenburg/Wippermann gegen die Auffassung von J. Gauck und E. Neubert, daß die DDR totalitär und verbrecherisch war. Neuberts Beitrag wird zu jenen gezählt, die „einfach so schlecht sind, daß sie wirklich nicht mehr als wissenschaftlich anzusehen sind“, er genüge „auch den minimalsten wissenschaftlichen Standards nicht“. Manche Beiträge gehen sehr ins Detail oder drohen auf Nebenstrecken zu fahren. So setzt sich Ulrich Herbeck intensiv mit der Unterschätzung des Antisemitismus der Gegner des Bolschewismus auseinander, und Mark Tauger wendet sich gegen die These, daß die Hungersnot in der Ukraine Ende der zwanziger Jahre bewußt herbeigeführt wurde.

Der abschließende Abschnitt „D) Politische Kritik“ führt wieder zu methodologischen Problemen und inhaltlichen Fragestellungen zurück. Gilles Perrault/Roger Martelli, Rudolf Walther, Wolfgang Wippermann, Matthias Küntzel und Hermann Gremliza liefern die Artikel. Sie befassen sich vorrangig mit den politischen Zielen der Schwarzbuchdebatte in Frankreich und Deutschland, mit der Totalitarismus-Theorie, mit Positionen der Linken zu kommunistischem Terror und Unrecht und dem Antikommunismus unter Linken. Nach einem Resümee der Herausgeber folgen abschließend Register (Autoren-, Namens-, Orts- und Sachverzeichnis).

Der Band ist die bisher umfangreichste, intensivste auf sachlich-wissenschaftlicher Ebene geführte Auseinandersetzung mit dem Schwarzbuch. Daß es in einem Band, der rein quantitativ nur ein Viertel des Umfangs des Schwarzbuchs hat, nicht möglich ist, alle Aspekte und Seiten in Betracht zu ziehen, ist den Herausgebern bewußt und kann ihnen nicht vorgeworfen worden.

Insgesamt erweist sich das Buch als meist differenzierte Gegendarstellung zum Schwarzbuch. Es verdeutlicht dessen geschichtspolitische Zielstellung und zeigt verschiedene geschichtswissenschaftliche Aspekte auf. Sein Wert besteht auch in dem Hinweis auf die verhängnisvollen Konsequenzen, die eine Relativierung des Holocaust hat.

Die konstatierten (fehlenden) methodischen Zugänge, inhaltlichen Schwächen und sachlichen Fehler des Schwarzbuchs lassen die Herausgeber zu dem Schluß kommen, daß der wissenschaftliche Charakter des Schwarzbuchs insgesamt stark zu bezweifeln ist. Im Ergebnis ihrer Beiträge ergibt sich die Antwort auf die im Titel aufgeworfene Frage nach einem „roten Holocaust“ - sie wird entschieden verneint.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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