Eine Rezension von Manfred Werner


Ein russisches Phänomen

Ernst Laboor: Wieviel Parteien braucht Rußland?
Parteien und politische Organisationen vom Ausgang der achtziger Jahre bis zu den Dumawahlen im Dezember 1995.

FIDES Verlags- und Veranstaltungsgesellschaft, Berlin 1996, 248 S.

 

Der Autor spürt in seinem in der thematischen Linie „Stimmen zur Zeit“ erschienenen Band den Wurzeln der frühen Parteienbildung in Rußland an der Wende zu den achtziger Jahren nach. Diese reichen bis in die Dissidentenbewegung und die Bewegung der „Nichtformalen“ der sechziger Jahre zurück - eine Form „gesellschaftlicher Selbstorganisation“ (S.20), zu der auch der Jugendprotest zu zählen ist.

Ernst Laboor läßt den Leser nacherleben, wie die einstmals alleinherrschende KPdSU unter dem Ansturm einer massenhaften Demokratiebewegung schließlich auseinanderbrach. Er untersucht das russische Phänomen, daß die noch in ihrer Formierung befindlichen neuen sozialen Schichten nach ihrer adäquaten politischen Repräsentanz suchen und dabei eine für Außenstehende nur schwer faßbare Fülle von Hunderten von Parteien und parteiähnlichen Organisationen bilden.

Das Buch gibt den bis dahin wohl besten Überblick über alle nennenswerten Parteien, politischen Organisationen und Parteienbündnisse mit ihren differenzierten Programmen und ihrer gesellschaftspolitischen Programmatik und stellt ihre führenden Repräsentanten mit politischen Kurzbiographien vor.

Die Ereignisse des August 1991, die Zerschlagung der Sowjetunion gegen den in einem Referendum erklärten Willen der Mehrheit, der Einsatz von Panzerkanonen gegen das Parlament, waren Wendepunkte in der jüngsten russischen Geschichte. Sie haben zu tiefgreifenden Umgruppierungen der politischen Kräfte und des Parteiengefüges Rußlands geführt.

Die Parlamentswahlen 1993 und 1995 hatten nicht zuletzt eine Belebung des politischen Geschehens zur Folge. Die politischen Hauptkräfte entwickelten ihre spezifischen gesellschaftlichen Strategien, die Stimmungen des Volkes wurden deutlicher als zuvor ablesbar. Grundlegende Entscheidungen über die Zukunft des Landes stehen bis heute an.

Der Autor ermöglicht dem Leser auf der Grundlage einer Vielzahl von Materialien - Originaldokumente, Äußerungen russischer Politiker und politisch Aktiver, wissenschaftliche Untersuchungen - einen detaillierten und tiefgreifenden Einblick in den Zustand der politischen Landschaft in Rußland und in den Machtkampf im Umfeld der Präsidentenwahlen 1996.

Daß der Autor seine selbstgestellte Frage Wieviel Parteien braucht Rußland? nicht beantwortet, deutet darauf hin, daß diese Frage zur Zeit wohl von niemandem beantwortet werden kann. Zu differenziert und widersprüchlich ist die Parteienlandschaft in Rußland, zu viel ist immer noch in Bewegung. Bereits 1993 wurde die Zahl der Parteien und parteiähnlichen Organisationen auf etwa 1 200 geschätzt. Im April 1995 werden 235 Parteien und Bewegungen genannt, „die das Recht der Aufstellung von Kandidaten für die Dumawahlen besaßen“; im August waren es schon 259 (S. 7). Daneben gibt es kleine und kleinste Gruppen und Zirkel der „Nichtformalen“, deren Zahl auf 2 000 bis 3 000 geschätzt wird.

Was zumindest bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1995 zum Ausdruck kam, kann als allgemeiner Trend festgehalten werden: „die schroffe Polarisierung der russischen Gesellschaft um die linken Parteien auf der einen Seite und die rechten Parteien auf der anderen“ (S. 229).

Ein Literaturverzeichnis erleichtert weiterführende Studien. Ein Personenregister und ein Register der Parteien, Organisationen und Parteienbündnisse ermöglichen einen raschen und unkomplizierten Zugriff zu konkreten Daten und machen den Band zu einem wichtigen Hilfsmittel für all jene, denen an schneller Information über die russische Parteienlandschaft gelegen ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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