Eine Rezension von Bernhard Meyer


Zuviel Medizin?

Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode
Rationierung und die Zukunft der modernen Medizin.

Ullstein Verlag, Berlin 1997, 144 S.

 

Der Autor gibt sich als nüchterner, knallharter Vordenker für das künftige Gesundheitswesen hierzulande. Sein Ansatzpunkt bezieht sich auf die seit Jahren bekannte und allseits anerkannte, mit einer gewissen Sorge betrachtete Tatsache: Die medizinische Wissenschaft bringt ständig neue Möglichkeiten zur Diagnostik und Therapie von Krankheiten hervor, die von niemandem mehr finanziert werden können. Für den Autor gibt es bereits zuviel Medizin. Immer mehr medizinisches Wissen, fortwährend neuartige Medikamente und eine zunehmend ausgefeiltere Medizintechnik führen zur Entdeckung von immer mehr Krankheiten beim Menschen, die es dann auch zu kurieren gilt. Die Quintessenz könnte lauten: Herr Doktor, ich bin gesund, bin ich noch normal? Wie gesagt, das Thema Kostenexplosion im Gesundheitswesen und Lösungsversuche verschiedener Art gibt es in allen Industrieländern der Welt reichlich, so auch in der Bundesrepublik durch die Seehofersche Reform des Gesundheitswesens.

Neugierig ist man deshalb auf die Verpackung des Themas durch den Autor. Um es gleich vorwegzunehmen: Brutal offen, total ungeschminkt und herzlos geht Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik in Dortmund, die in der Tat problembeladene Situation an. Schon in seinem Vorwort bietet er dem Leser zwei seiner Kerngedanken an, die dann auch den Tenor seiner durch ihn favorisierten Denkweise ausmachen. Das Gesundheitswesen sei ein „einziges Desaster“ in Organisation und Struktur mit „perversen Anreizen“ für die Menschen, das „wie ein Krebsgeschwür den Wirtschaftskörper auszehrt“ (S. 9/10). Zum anderen sei das Dilemma der modernen Medizin nicht der Mangel, sondern das „Übermaß der guten Dinge, ein Zuviel“ (S. 10). Dermaßen pessimistisch eingestimmt, erfährt der Leser dann auch noch, daß die moderne Medizin eigentlich unbeliebt sei, woraus sich die Hinwendung zur Naturheilkunde erkläre. Das viele (und in dem Umfang gar nicht nötige) Wissen der Ärzte führe zu mehr Fehlern und Komplikationen in der Diagnose, bei Operationen, in der Medikamentierung usw. Elektronik und Chemie heilen heutzutage den Menschen, wobei der Arzt zu einem „Gesundheitsingenieur“ verkomme. Überhaupt seien die Deutschen ein Volk von Kranken, denn die bessere Diagnostik führe zur unablässigen Auffindung von Krankheiten, die vor Jahrzehnten noch unerkannt und damit unbehandelt geblieben wären. Und das hat Kosten gespart. Gerade letzteres will Krämer dem Leser anhand von Zahlen und Fakten einprägsam vor Augen führen. Die Formel „Mehr Geld = mehr Gesundheit“ sei falsch. „Je mehr die Medizin sich anstrengt, desto kränker werden wir, die moderne Medizin sitzt ein für allemal in einer großen Fortschrittsfalle fest.“ (S. 44)

Eine solche Denkweise kann nicht unwidersprochen bleiben, da sie unweigerlich zu antihumanistischen Konsequenzen gelangt. Der Bürger (und wohl auch der Autor) erwartet von der Medizin zu Recht, daß ihm im Falle von Krankheit nach neuesten Erkenntnissen geholfen wird. Er wünscht sich ein gesundes und langes Leben. Jeder einzelne und die solidarische Gesellschaft als Ganzes müssen zur Sicherung dieses Vorhabens beitragen. Warum soll das an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bei hohem Stand der Produktivität als Utopie abgetan werden? Äußerst hellhörig muß man werden, wenn die „Fortschrittsfalle“ ausgerechnet an der Medizin festgemacht wird, während alle anderen Bereiche davon ausgenommen sind. Mit Zahlen, Formeln und arg verkürzenden Gleichungen kommt man ohnehin in diesem sensiblen Lebensbereich, der auch kostenmäßig nicht zu erfassende Begriffe wie Lebensglück, Wohlbefinden, Nächstenliebe, Menschlichkeit, soziale Gerechtigkeit kennt und weiterhin dringend benötigt, nicht zurecht. Der Mensch braucht eben das Gefühl medizinischer Geborgenheit. Wer den Menschen dagegen — wie der Autor - nur als Kostenfaktor sieht, der möchte künftig Entscheidungen nach dem Prinzip gefällt sehen: Was ist teurer, der frühe Rauchertod oder das lange Leben des Nichtrauchers, der an anderen Krankheiten leidet? (S. 72) Allein die Fragestellung ist antihuman und daher abzulehnen. Dem nüchternen Kalkül in Kostenregionen verschließt sich der menschliche Sinn für eine verlängerte Lebensspanne zwischen dem Erkennen einer Krankheit und Tod völlig. Es können Jahre dazwischen liegen, in denen der Betroffene womöglich menschliche Zuwendung wie nie zuvor erfährt, ebenso wie ein tieferes Eindringen in sich selbst, ein Lebenszugewinn, wie er in nackten Zahlen niemals erfaßt werden kann. Wem all dies zu teuer ist, der kann von vornherein jede lebensverlängernde Dialyse, jede komplizierte Operation am Herzen oder Gehirn und jede Organtransplantation ablehnen. „Was nicht existiert, kostet auch nichts.“ (S. 50) Gäbe es das Dialyseverfahren nicht, bestünde keine Nachfrage, und somit entstünden auch keine Kosten. Weitergedacht kann das bedeuten: Gäbe es überhaupt keine kranken Menschen, verursachten sie auch keine Kosten. Diese Logik zwingt dazu, künftig gleich bei der Geburt eines Menschen, besser noch schon während der Schwangerschaft, feststellen zu lassen, mit welchen gesundheitlichen Risiken der geplante oder tatsächliche neue Erdenbürger durchs Leben gehen und welche Kosten er verursachen wird. Die deutschen Faschisten haben in ihrer Diktion vom „lebensunwerten Leben“ gesprochen und bekanntlich auf ihre Weise gehandelt. Soweit geht der Autor natürlich nicht.

Das Kostendenken einmal angewandt, wird darin auch die Prävention einbezogen und als sinnlos abqualifiziert. Vorbeugung verschiebe nur die Krankheiten, vermeide sie aber nicht und bringe nicht das ewige Leben. Abgesehen davon, daß kein ernstzunehmender Mediziner als Ergebnis der Vorbeugung von einer absoluten Krankheitsvermeidung oder gar von Unsterblichkeit sprechen würde, wäre doch bereits die Verschiebung einer Krankheit für jeden ein Lebensgewinn. Nicht so für den Autor: „Der Endeffekt von Prävention ist nur, daß wir etwas später an anderen Krankheiten sterben, wobei die Konsequenz für die Kosten vor allem davon abhängt, welche Krankheit ,billiger‘ ist, die abgewendete oder die trotz Prävention schließlich doch eingetretene.“ (S. 72) Schockierend diese Betrachtungsweise des Autors, der nur Sympathien für das empfindet, was kostengünstig ist. Krämer fehlt jegliches Gefühl dafür, welche Lebensqualität derjenige gewinnt, bei dem durch Vorsorgeuntersuchungen bestimmte Krankheiten wie Brust- oder Prostatakrebs frühzeitig erkannt und gegebenenfalls erfolgreich behandelt werden können. Seine Schlußfolgerung, „mehr Prävention (ist) unter rein kaufmännischen Aspekten heute ein Verlustgeschäft“ (S. 80), unterlegt er dadurch, daß er ausschließlich Präventionsgegner zitiert, nicht aber Befürworter. Wenn „zum Ausgleich für mehr Prävention die Heilbehandlung“ (S. 80), eingeschränkt werden soll, muß dem Autor nicht nur zu diesem Fakt eine sehr eigenwillige, unübliche Interpretation von Prävention bescheinigt werden.

Der eigentliche Pferdefuß bei Krämer liegt genaugenommen gar nicht so sehr bei seiner Klage über die Explosion des Machbaren, sondern bei dem Problem, den Fortschritt allen Menschen einer Gesellschaft gleichermaßen im Bedarfsfall zugänglich zu machen. Dafür sieht er arg eingeschränkte Möglichkeiten, deshalb müsse ein System der Rationierung gefunden werden. Obwohl Krämer sich bei diesem bereits seit einiger Zeit im Umlauf befindlichen Reizwort wohlweislich hütet, in Details zu gehen, besteht an der Wegrichtung keinerlei Zweifel: Zweiklassenmedizin in voller Ausprägung. Der Autor drückt es freilich für den Leser etwas verträglicher aus, da er das „Sparen auf Planungsebene“ für besonders geeignet hält. Dies würde bedeuten, daß bestimmte medizinisch denkbare Leistungen nicht mehr „geplant“, d. h. aus dem Leistungskatalog gestrichen oder gar nicht erst aufgenommen werden bzw. bestimmte Forschungen von vornherein unterbleiben. „Das ist im Prinzip kein Grund zur Panik, denn ein nur halb gefülltes großes Glas ist den meisten Menschen immer noch lieber als ein gut gefülltes kleines. Wir müssen nur entscheiden, wer von denen, die die leere Hälfte gern getrunken hätten, seinen oder ihren Anspruch vergebens reklamieren.“ (S. 140) Wer da bei dem sozialen Gefälle der bundesdeutschen Gesellschaft vergeblich zum Glas greifen wird, teilt sich dem Leser mit, ohne daß der Autor dies ausdrücklich betonen muß. Eine Chancengleichheit muß und wird es künftig immer weniger im Gesundheitswesen geben, erklärt Krämer, denn die gibt es beim Autokauf, beim Hausbau oder bei der Arbeitsplatzsuche schließlich auch nicht. (S. 139) Wundern muß es den Leser dann doch, wenn der Autor ihm mitteilt, daß die im Buch vertretene zentrale These „eine völlig wertneutrale Feststellung einer Tatsache“ sei. Dabei spürt der Leser durchweg, wie der Autor den Widerspruch zwischen Möglichkeiten und Machbarkeit durchaus nicht wertneutral gelöst sehen will.

Das Buch zerbröselt noch mehr das Besondere, das Ethische, Unvergleichbare des Gesundheitswesens durch pauschale Gleichsetzung mit beliebigen anderen Bereichen. Niemand bezweifelt die bisherige und kommende enorme Kostenentwicklung im Gesundheitswesen. Abzulehnen sind jedoch alle Interpretationsversuche und Lösungsansätze, welche die Achtung vor dem Menschen und seine Würde verletzen oder in Frage stellen. Die Sorge um die Gesundheit ist ein Menschenrecht, an dem nicht gerüttelt werden darf. Die Alternative besteht doch zwischen der Anerkennung, die Erhaltung und Förderung der Gesundheit als ein kostbares Gut jedes Indiviuums einzustufen und die dafür erforderlichen Finanzen solidarisch in der Gesellschaft aufzubringen oder sie zum Gegenstand einer eingeschränkten Grundsicherung zu deklarieren, wobei je nach Zahlungsfähigkeit auf dem Markt beliebig mehr dazugekauft werden kann. Das Scheideschwert für Gesundheit ist das Geld. Darin besteht die Message dieses Buches.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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