Eine Rezension von Jürgen Birg


Tödlicher Schatten - Mielke contra Kreikemeyer

Wolfgang Kießling: „Leistner ist Mielke“
Schatten einer gefälschten Biographie.

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 302 S.

 

Der Autor hat sich bereits mehrfach „einschlägig“ ausgewiesen. Arbeiten zu Paul Merker und Bücher wie Partner im Narrenparadies oder Der Fall Baender befassen sich detailliert mit Repressionen in der DDR. Nun legt Kießling einen der spektakulärsten Polit- und Kriminalfälle der DDR dar, einen Fall, bei dem kein Grab, keine Sterbeurkunde und keine Leiche existierten. Es geht nicht um die Biographie Mielkes, wie der Haupttitel vermuten läßt, obwohl ihm ein tragender Part zukommt. Der „Schatten der gefälschten Biographie“ Mielkes fällt vielmehr auf Willi Kreikemeyer, und dieser Schatten erwies sich als tödlich.

Kießling stützt sich in seinen Darlegungen auf einen breiten Fundus von Archivmaterialien, die größtenteils bisher noch nicht für die Forschung ausgewertet waren. Einen Hauptteil der Materialbasis bildet der Aktenbestand Willi Kreikemeyer, der sich früher im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR befand und nun vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStu) in Berlin aufbewahrt wird. In diesen Akten sind die Protokolle, Berichte, Briefe und andere Dokumente, einschließlich Schweigeverpflichtungen von MfS-Angehörigen, über den Fall Kreikemeyer enthalten. Als weitere Hauptquelle dienten Sammlungen des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs der SED, das heute zum Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) Berlin gehört.

Willi Kreikemeyer war in der DDR zur Unperson geworden, in Geschichtsschreibung und Memoirenliteratur wurde er nicht erwähnt. Er ist am 11. Januar 1894 in Magdeburg geboren worden, lernte den Beruf eines Drehers und fand in jungen Jahren zur politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Seit 1919 Mitglied der KPD, arbeitete er ab Mitte der zwanziger Jahre für die KPD hauptamtlich in verschiedenen Gebieten Deutschlands als Politischer Sekretär und für das Buch- und Zeitungsunternehmen Münzenbergs (so für den Neuen Deutschen Verlag und die „Arbeiter Illustrierte-Zeitung“). Nach Hitlers Machtantritt waren das Saarland, Prag und Paris seine Emigrationsstationen. Während des Bürgerkriegs in Spanien kämpfte er in der XI. Brigade, wo ihm 1937 in Albacete erstmals ein gewisser Hauptmann Leistner begegnete. Nach Spanien fand er erneut in Frankreich als Exilant Aufnahme und heiratete dort Marthe Fels.

Im Auftrag seiner Partei stellte Kreikemeyer Verbindungen zu Noel Field und dessen Hilfsorganisation Unitarian Service Committee (USC) her. Hat Kießling die Zeitabschnitte bisher nur relativ knapp nachgezeichnet, so wird er nun ausführlicher. Nach Kriegsende und seiner Rückkehr 1946 nach Deutschland machte Kreikemeyer im Osten Karriere, nach wenigen Zwischenstationen wurde er am 20. Januar 1949 Generaldirektor des größten Betriebs in der sowjetischen Zone, der Reichsbahn. Doch sollte sein Aufstieg bald abrupt gestoppt werden. 1949/50 faßte die SED-Führung verhängnisvolle Beschlüsse über „Westemigranten“.

Für den 5. Juni 1950 erhielt Kreikemeyer eine Vorladung vor die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) in das Haus der Einheit, Lothringer Straße 1 (heute Torstraße), Zimmer 118. Als ihn Herta Geffke, die stellvertretende Chefin dieser Kommission, zu einer über 200 Personen erfassenden Liste mit Namen und Decknamen befragte, entschlüpfte ihm ein verhängnisvoller Satz: „Leistner ist Mielke“. Kreikemeyer kannte Mielke gut, hatte er diesen doch unter dem Namen Leistner in Frankreich 1941/42 finanziell über die Field-Organisation unterstützt und sogar ein Visum nach Mexiko besorgt. Ein für Mielke gefährliches Wissen, denn es hätte ihn in seiner Karriere gefährden können, seine von Moskauer „Behörden“ abgesegnete Legende vom Kampf in der Roten Armee zerstört und selbst in den Bannkreis der verfolgten Westemigranten stoßen können. Kreikemeyer verschwand am 25. August 1950, als die ZPKK ihn erneut vorlud und ihm seinen Parteiausschluß mitteilte.

Die letzten Monate im Leben Kreikemeyers, die Vorgänge im Zusammenhang mit seinem Tod und die darum inszenierten Vertuschungs- und Täuschungsmanöver werden von Kießling ausführlich und detailliert beschrieben. Sorgfältig wertet er die aufgefundenen Quellen aus, fixiert gesichertes Wissen, wägt ab, wo Interpretationen und Vermutungen fehlende Belege ersetzen müssen. So entgeht der Autor der Gefahr, Spekulationen an die Stelle von Tatsachen zu setzen.

Kreikemeyers Verhaftung fügte sich ein in die Vorbereitung eines politischen Schauprozesses, der analog zum Kosteffprozeß in Bulgarien und zum Rajkprozeß in Ungarn auch in der DDR beabsichtigt war. Dazu wurden eine Reihe führender SED- und Staatsfunktionäre und KPD-Funktionäre verhaftet (u. a. Paul Merker, Kurt Müller, Leo Bauer und Bruno Goldhammer).

In der Haft begegnete Kreikemeyer nun Mielke wieder, der ihn am 26. August im Untersuchungsgefängnis Albrechtstraße der Staatssicherheit persönlich verhörte. Wie in analogen Fällen forderte er von Kreikemeyer, „schriftlich und rückhaltlos seine Schuld zu bekennen“, ließ diesen dabei glauben, damit in die Partei „zurückkehren“ zu können. Wie lange Kreikemeyer nach dieser Begegnung noch lebte, ist nicht bekannt. Zwar kann auch Kießling nicht mehr klären, wann, wo und wie Kreikemeyer ums Leben kam, fest steht aber, daß er auf keinen Fall eines natürlichen Todes starb. Die Indizien sprechen indes kaum für einen Selbstmord. Kießling begründet auch, daß es keinen Beleg gibt, wie manchmal spekuliert wird, daß Kreikemeyer sowjetischen Behörden ausgeliefert wurde. Das letzte Lebenszeichen von Kreikemeyer stammt vom 27. August 1950. An diesem Tag verfaßte er einen Bericht, in dem er seine Fehler in der Zusammenarbeit mit Field „eingestand“ und auf Rettung hoffte. Einen kurz danach dazu verfaßten Begleitbrief übergab er an den „Herrn Staatssekretär Leistner“, der seinen Bericht weiterleiten sollte. Kreikemeyer wurde am 31. August in seiner Zelle von einem Wachmann tot aufgefunden, so zumindest wurde es im Oktober 1954 festgelegt. Wachleute wurden verpflichtet, über den vermeintlichen Selbstmord des Häftlings zu schweigen. Dem toten Kreikemeyer wurde nun, wie Kießling nachweist, eine zentrale Rolle in der Verbindung zu Field in den Reihen der deutschen Kommunisten in Frankreich und zum amerikanischen Geheimdienst OSS zugewiesen, selbst in seinem Reichsbahn-Amt in der DDR wurde er der Sabotage bezichtigt.

Die von Kießling wiedergegebenen bzw. zitierten Texte belegen auf erschütternde Weise, wie Kreikemeyers Ehefrau Marthe jahrelang auf ein Lebenszeichen ihres Mannes wartete. Verzweifelt schrieb sie nach dem Verschwinden ihres Mannes persönliche Briefe an Ulbricht, Pieck, Grotewohl, Zaisser, an den Chef der Sowjetischen Kontrollkommission bzw. Hohen Kommissar. Sie erhielt keine Antwort, blieb aber in der Hoffnung, ihr Mann sei am Leben. Zermürbt verließ sie Ende 1954 die DDR und kehrte nach Frankreich zurück. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 schöpfte sie neue Hoffnung, schrieb wieder an die SED-Führung, ob ihr Mann noch lebe und wo er sich befinde. Im Juli 1957 teilte ihr die Generalstaatsanwaltschaft der DDR mit, daß ihr Mann am 31. August 1950 in Berlin verstorben sei, die Eintragung ins Sterbebuch wäre versäumt worden.

Kießling hat mit dieser Arbeit über Kreikemeyer und die Involvierung Mielkes in diesen Fall einen weiteren wichtigen Mosaikstein zur Geschichte der DDR und der Staatssicherheit hinzugefügt. Eigentlich ein Buch zur Geschichte, liest es sich wie ein spannend geschriebener Kriminalroman.

Wolfgang Kießling verstarb am 1. 3. 1999, d. Red.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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