Eine Rezension von Michael Dingel


„Ihr müßt anfangen!“

Fragen zur deutschen Einheit.
Reinhard Höppner im Gespräch mit Daniela Dahn, Egon Bahr, Hans Otto Bräutigam, Erhard Eppler, Günter Gaus, Regine Hildebrandt, Günter Grass.

mdv Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1998, 224 S.

 

Im Herbst 1989 hat es in der Mitte und im Osten Europas einen gewaltigen politisch-gesellschaftlichen Umbruch gegeben. In Deutschland wurde bereits ein Jahr nach dem Mauerfall die staatliche Einheit vollzogen. Die Konsequenzen sind bekannt. Da die neuen staatlichen Strukturen des vereinten Deutschland nicht auf einem längeren gesellschaftlichen Veränderungs- und Verständigungsprozeß beruhen, brachen auch die wirtschaftlichen Strukturen Ostdeutschlands zusammen, so daß Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verloren und sich die Lebensverhältnisse und Gewohnheiten, die mehr als eine Generation geprägt hatten, abrupt veränderten.

„Die Suche nach einer modernen und zugleich gerechten innenpolitischen Ordnung wie auch nach der Rolle des vereinten Deutschlands in Europa bleibt auf der Tagesordnung“, erklärt Hans Jürgen Fink, Regierungssprecher von Sachsen-Anhalt, im Vorwort. Damit Deutschland tatsächlich zusammenwachse, bedürfe es des Dialogs mit dem hinzugekommenen Partner und seiner Anerkennung als gleichberechtigter Teilhaber an der gemeinsamen Zukunftsgestaltung.

Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner hatte prominente Gäste aus Ost und West eingeladen, „die auf ihre eigene persönliche Weise Orientierungs- und Gestaltungshinweise zu geben vermögen für die anstehenden Veränderungen in Deutschland wie für die Verständigung zwischen den Deutschen“. Die hier dokumentierten Gespräche fanden zwischen Mai 1997 und März 1998 statt.

Zu Beginn der jeweiligen Gespräche stellt Reinhard Höppner den Anwesenden seinen Gast vor. Vieler Worte bedarf es dabei nicht, denn die Publizisten, Politiker und Schriftsteller haben als Zeitzeugen den Prozeß der Wiedervereinigung verfolgt und beschrieben oder selbst mitgestaltet. In einem einführenden Vortrag legen sie ihre Meinung zum Stand und zum Umgang mit der deutschen Einheit dar. Anschließend erfolgt eine mehr oder weniger lebhafte Diskussion, die Reinhard Höppner in geordneten Bahnen zu halten weiß.

Der Leser lernt hier die unterschiedlichsten Persönlichkeiten kennen. Während die einen ihre Freude an zugespitzten Formulierungen zu erkennen geben, versuchen andere, sachlich und tiefgründig Position zu beziehen. In vielem stimmen sie überein, aber - und das liegt in der Natur der Sache, in den konfliktreichen Ereignissen und Fakten - ebenso häufig unterscheiden sich ihre Auffassungen, zuweilen gehen sie auch diametral auseinander. Als Beispiel soll hier nur angeführt werden, wie Prof. Egon Bahr und Dr. Hans Bräutigam über den Umgang mit den Stasiakten denken. Während Bahr im Jahre fünf der Einheit mit dem damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker gesprochen hat, „ob nicht ein Schlußgesetz gemacht werden sollte, so daß gewissermaßen außer Strafverfolgung gestellt wird jedes Vergehen, das, sagen wir, mit weniger als fünf, mit weniger als zehn Jahren bedroht wird, so daß die eigentlichen Kapitalverbrechen außen vor bleiben, aber im Prinzip die Justiz die Bücher schließen kann“. Auch Genscher, Scharping und Schäuble waren dafür. „Parteiübergreifende Feigheit vor den Resten der Bürgerrechtsbewegung, die nun, ich sag das mal in meinen Worten, Vergeltung wollten, eingehüllt in die Toga der Gerechtigkeit. So kann man keine Versöhnung erreichen.“

Bräutigam hält dagegen: „Innere Heilung nach diesen Jahren der Diktatur braucht Wahrheit. Darum ist es wichtig, daß die Archive offen bleiben, auch die Stasiakten, die so unrühmliche Geschichten erzählen, auch wenn sie nicht die ganze Wahrheit enthalten.“

Groß ist die Sorge, daß nicht zusammenwachsen könnte, was doch eigentlich zusammengehört. Die Euphorie der ersten Jahre hat sich längst gelegt, Ernüchterung ist eingekehrt, Pessimismus hat sich breitgemacht. Das geben alle Gesprächsgäste zu erkennen. Und auch die Gründe dafür, warum viele ehemalige DDR-Bürger bisher nicht heimisch geworden sind im vereinten Deutschland, verstehen sie - nicht nur die beiden Frauen aus dem Osten. Ebendeshalb sind solche Gespräche von großem Nutzen, vertiefen sie Einsichten über die Mentalität in Ost und West, sind sie ein geeignetes Mittel, Toleranz zu üben und zu pflegen.

Noch einmal Bahr. Auf die Frage Höppners, ob es überhaupt möglich ist, ein gemeinsames Schulbuch zu schreiben, in dem Ost und West sich wiedererkennen können, antwortet er: „Wie sollen wir denn zur Einheit kommen, wenn nicht einmal die jungen Menschen die gemeinsame Geschichte lernen und sich wiedererkennen können? Ihr müßt anfangen!“

Zeitgeschichtlich interessierten Lesern, die sich um dieses vereinte Deutschland ebenso sorgen wie Höppners kompetente Gesprächspartner, sei die Lektüre uneingeschränkt empfohlen. Es ist gut, daß eine Fortsetzung dieser Veranstaltungsreihe geplant ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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