Eine Rezension von Rainer Bert


Ein deutsch-jüdisches Ehepaar

Alice und Gerhard Zadek: Ihr seid wohl meschugge

Dietz Verlag Berlin, Berlin 1998, 253 S.

 

Die Autoren, 1921 bzw. 1919 in Berlin geboren und inzwischen mehr als 55 Jahre miteinander verheiratet, kehrten aus dem britischen Exil 1947 in ihre Heimatstadt zurück. Vor ihrer Emigration 1939 gehörten sie der antifaschistischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum und der zionistischen Jugendorganisation „Haschomer Hazair“ an. Die Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland stehen im Mittelpunkt dieses Erinnerungsbandes. Sie werden in zahlreichen Rück- und Vorblenden, die für den Lesenden nicht immer einfach zu überschauen sind, erzählt. Das „deutsch-jüdische Ehepaar“, so die Eigenbezeichnung, zieht damit Bilanz über einen Lebensabschnitt und die DDR, in die sie „viel Kraft und Energie investiert“ hatten. Drei Töchter erzogen sie in dieser Zeit, wenn auch - wie sie meinen - nicht immer mit dem von ihnen erhofften Erfolg, da sie alle in den 80er Jahren aus der DDR Richtung Westen gingen. Und dennoch sehen sie sich im Rückblick als glückliche Familie und sind stolz auf ihre Kinder. Abwechselnd erzählen Gerhard oder Alice in neun Abschnitten ihre Geschichte, um dann über die persönliche „Wende“ ihrer Töchter gemeinsam einen Epilog zu ziehen. In einem Anhang, betitelt „Gespräche mit Zeitzeugen“ äußern sich A. Kriener, der ehemalige Chefredakteur der „Neuen Deutschen Bauernzeitung“, Peter Kirchner, der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ostberlin, und Jan Kraski, Mitglied des Präsidiums des US-Holocaust-Memorial-Museums, jeweils zu ihren „Fachgebieten“. Die Interviews stammen aus der Zeit zwischen 1993 und 1997, leider wird nicht deutlich, auf welcher Quellengrundlage ihre Veröffentlichung erfolgt und welche Funktion sie erfüllen.

Als die Autoren 1947 ihrer englischen Zufluchtsstadt Manchester den Rücken kehren, um in Berlin, im sowjetischen Sektor der Stadt, am Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken, werden sie von Freunden und Bekannten, oft Überlebende des Holocausts, mit den Worten empfangen: „Ihr seid wohl meschugge.“ Diese Worte, so die Zadeks, begleiteten sie über vier Jahrzehnte in der DDR und danach. „Was haben wir falsch gemacht in der DDR? Warum sind wir überhaupt zurückgekehrt? Warum gerade in den östlichen Teil Deutschlands? Was haben wir bei unserer Ankunft erwartet? Was hat die DDR versprochen und was gehalten?“ Diese Fragen stellen sie sich immer wieder. Sie suchen aus ihrer Sicht nach Erklärungen und Begründungen, lassen aber auch manches offen und unbeantwortet.

Für beider Leben bestimmend ist ein häufiger Funktions-, Arbeitsplatz- und Ortswechsel, für die Kinder heißt das Schulwechsel (für die älteste Tochter 8mal in zehn Jahren). Gerhard Zadek begann zunächst im Verlag Neues Lebens und wurde bald Chefredakteur der „Jungen Generation“, der Zeitschrift für die FDJ-Funktionäre. Bei Gründung der DDR avancierte er unter Chef Albert Norden zum Stellvertreter der Presseabteilung, 1952 zum stellvertretenden Chefredakteur der SED-Zeitungen für Mecklenburg bzw. in Neubrandenburg. Als er zurück nach Berlin beordert wurde, fungierte er u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ministerium für Schwermaschinenbau, noch während seines Fernstudiums war er Arbeitsdirektor und Parteisekretär in einem Großbetrieb. Auch als Pressechef der Staatlichen Plankommission und in anderen Propaganda- und Pressefunktionen, im Patentamt im Volkswirtschaftsrat, war er tätig. Alice folgte meist ihrem Mann, übernahm ehren- und hauptamtliche Aufgaben vornehmlich in gesellschaftlichen Organisationen wie dem DFD. Seit 1953 arbeitete sie als Leiterin eines Damenkonfektionsbetriebs, bis sie dann im Apparat der SED landete und sich mit Frauenpolitik befaßt. 1969 kommt sie als Mitarbeiterin zu Politbüro-Kandidatin Inge Lange „überzeugt, wirklich alles für das Wohl des Volkes“ zu tun. Hier blieb sie bis an das Ende ihrer Arbeitstätigkeit. Auf Inge Lange, die „verdiente Frau“, in deren Abteilung natürlich alles anders war als in anderen ZK-Abteilungen, läßt sie nichts kommen.

Auf ein Thema kommen die Zadeks immer wieder zurück: auf ihre jüdische Vergangenheit, die sehr in den Vordergrund gestellt wird und die in der DDR nur ungenügend beachtet worden sei. Zugleich vertreten sie ihre Auffassung, daß es in der DDR nie Antisemitismus gegeben hat. Der Band lebt von Erinnerungen, Anekdoten und Begegnungen mit Freunden und Bekannten, bringt auch manch Überlegenswerte zur DDR und ihrem Scheitern sowie zum Heute. „Die heutige Zeit“ war für die Autoren auch Anlaß, nochmals zur Feder gegriffen zu haben. Für sie ist es offensichtlich komplizierter geworden, das „vergangene Experiment ,Sozialismus‘ in der DDR“ nicht nur für den eigenen Lebensweg, sondern auch hinsichtlich der weltpolitischen Entwicklung in der Rückschau zu werten. Sie resümieren, sie hofften „wie viele auf Reformen, aber das System, die Machtverhältnisse waren nicht mehr reformierbar“, als Erinnernswertes geblieben sei vor allem das „sozialistische Miteinander vieler Menschen“. Ohne eigenes Zutun seien sie nun einem Land angekommen „mit gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialabbau und für viele Menschen fehlenden Perspektiven“. Daraus begründen sie, „unsere Visionen auf eine zivile, humane Gesellschaft lassen wir uns nicht nehmen“.

Vergleicht man diesen mit dem ersten, bis 1947 reichenden Erinnerungsband der Zadeks - Mit dem Nachtzug nach England -, scheint der Erstling interessanter und spannender zu sein. Ob das am Gegenstand liegt oder an noch vorhandenen Beklemmungen über die „DDR-Zeit“ in jeder Richtung vorurteilsfrei zu schreiben, kann dahingestellt bleiben. Zumindest bot der erste Band die Vorlage für einen Film. Auf diesen Film, „Schalom, Genossen“ und seine Entstehung wird oft - zu oft? - zurückgegriffen. Ob mit diesem Band ähnliches möglich wird, scheint wenig wahrscheinlich. Und eines sei noch kritisch angemerkt: Das Buch leidet unter zahlreichen Druckfehlern. Zumindest einer kann Schmunzeln auslösen, denn was verbirgt sich wohl unter einer „Pressebeichterstattung“, wer soll beichten, die Presse oder die Erstattung?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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