Eine Rezension von Michael Dingel


„Und ich bitte euch, kein Scheißgeheule!“

Ljudmila Ulitzkaja: Ein fröhliches Begräbnis.

Roman.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.

Verlag Volk und Welt, Berlin 1998, 181 S.

 

Brütende Hitze beherrscht New York. „Bei einer Luftfeuchtigkeit von fast hundert Prozent schien es, als stünde die ganze riesige Stadt mit ihren unmenschlichen Häusern, ihren prächtigen Parks und ihren vielfarbigen Menschen und Hunden kurz vor dem Übergang in einen anderen Aggregatzustand, als würden jeden Augenblick halbflüssige Menschen in der bouillonartigen Luft schwimmen.“

Seit zwei Wochen ist Alik wieder in seiner Atelierwohnung, weil er nicht im Krankenhaus sterben will. Bei ihm sind „fünf Weiber“ - russische Emigrantinnen und eine italienische Nachbarin. „Eine allmähliche Lähmung fraß die letzten Reste seiner Muskulatur auf. Seine Arme und Beine lagen still und leblos da und fühlten sich nicht tot und nicht lebendig an, sondern wie etwas verdächtig Dazwischenliegendes, wie erstarrender Gips. Am lebendigsten war sein leuchtend rotes Haar, das in dichten Borsten nach vorn fiel, und sein abstehender Schnauzbart, der für sein abgemagertes Gesicht nun ein bißchen zu groß war.“

Alik, ein russischer Maler, dem der große Erfolg versagt geblieben ist, war nie geschäftstüchtig und selten in der Lage, pünktlich die Miete zu bezahlen. Darin unterschied er sich nicht von den meisten anderen russischen Immigranten. Der Hausverwalter Claude, künstlerisch interessiert und mit philanthropischen Neigungen, half ihm des öfteren aus der Klemme, indem er ihm Bilder abkaufte. Mit dreißig Jahren lernte Alik Europa und Amerika kennen. „Erst als er nach Amerika übergesiedelt war und ein paar Jahre dort gelebt hatte, verstand er den Neid der Amerikaner auf das alte Europa, das so abgewetzt, so hochkultiviert, ja sogar erschöpft war, und ebenso verstand er Europas hochmütiges, insgeheim aber auch neiderfülltes Verhältnis zum breitschultrigen, ursprünglichen Amerika.“

Der Roman ist beileibe kein trauriges Buch. Alik ist ein ewiger Spötter, der auch kaum mit seinem schweren Schicksal hadert; er wird von vielen geliebt, den Barkeepern, den Händlern auf dem Fischmarkt und natürlich von den Frauen. Die unterschiedlichsten Typen und Charaktere darunter, jede für sich interessant und auf ihre Art faszinierend. Und seine Wohnung ist oft überfüllt, so ist der Eindruck, von der ganzen russischen Kolonie dieser Stadt. Es übernachten viele, die kaum jemand kennt, ein Platz auf dem Teppich findet sich immer, ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. „Alle, die hier saßen, in Rußland geboren, verschieden durch Begabung und Bildung, auch durch ihre bloßen menschlichen Eigenschaften, glichen sich in einem Punkt: Sie alle hatten Rußland auf die eine oder andere Weise verlassen. Die meisten waren offiziell emigriert, manche bei einer Reise einfach hiergeblieben, die Kühnsten illegal geflohen. Aber dieser Schritt einte sie. Wie unterschiedlich auch ihre Ansichten waren und ihr Leben in der Emigration aussah, das hatten sie für immer gemeinsam: Sie hatten eine Grenze überschritten, ihre Lebenslinie abgeschnitten, sie unterbrochen, alte Wurzeln gekappt und neue geschlagen, in anderer Erde, die anders aussah, anders roch und sich anders anfühlte.“ Gemeinsam haben sie auch die unterschwellige Sehnsucht nach dem verlassenen Heimatland, die sich aber plötzlich zu rigoroser Anteilnahme steigern kann, wie an den Ereignissen während des Putsches in Rußland. Gebannt verfolgten sie zwei Tage lang im Fernsehen die Geschehnisse, bis der Spuk vorüber war. „,Wir haben gewonnen’, sagte Alik.“

Russen in New York - Einsichten, daß auch diese Gesellschaft keine Erfüllung ihrer Träume darstellt. „Dieses Land verabscheute das Leiden, lehnte es grundsätzlich ab und akzeptierte es nur als Einzelfall, der unverzüglich behoben werden mußte“, stellt Fima fest, der mühsam als Arzt Fuß zu fassen versucht. „Das Land, aus dem er stammte, liebte und schätzte das Leiden, nährte sich sogar davon.“ Die wenigsten Russen fühlen sich in den jeweiligen Gastländern so weit geborgen, daß sie sich im Innersten nicht zurücksehnten. Beispiele aus den zwanziger Jahren, daß Angehörige der Intelligenz und Künstler, die nach der Oktoberrevolution Rußland verließen und trotz der damit verbundenen Gefahren keinen anderen Ausweg sahen, als zurückzukehren, gibt es genug. Auch darin liegt eine Tragik.

Als Alik schließlich stirbt, entgeht das zunächst den Frauen, die nacheinander an seinem Bett wachen. Auf der Trauerfeier nach dem Begräbnis meldet sich der Tote via Recorder, den seine autistische Tochter mit dem Spitznamen T-Shirt bedient, zurück: „Und ich bitte euch, kein Scheißgeheule! Es ist alles bestens! Alles in Butter! Okay? Ja?“ Und weiter: „Warum seid ihr so Scheiße drauf, Kinder? Trinken wir auf mich! Ninotschka, auf mich! Auf geht’s!“ So unwahrscheinlich es anmutet; sein „Appell“ verhallt nicht ungehört! „Alles ist todtraurig, auf einmal kommt zaghaft süße Freude auf, oder im Gegenteil ...“

Ljudmila Ulitzkaja hat im Verlag Volk und Welt nach Zarte und grausame Mädchen (Erzählungen, von denen „Sonetschka“ 1996 in Frankreich mit dem Prix Médicis ausgezeichnet wurde) und dem Roman Medea und ihre Kinder, in dem die großen Ereignisse unseres Jahrhunderts mit den menschlichen Konstanten verwoben sind, einen weiteren faszinierenden Roman vorgelegt. Viele Episoden sprechen von dichterischer Kraft und bleiben im Gedächtnis des Lesers. Die Zeichnung der Charaktere ist meisterlich.

Anläßlich der Verleihung des Prix Médicis schrieb ein französischer Kritiker: „Diese Autorin ist eine Offenbarung. Sie ist der Tschechow eines um hundert Jahre älteren Rußland.“ Und „Die Weltwoche“ urteilte über Medea und ihre Kinder: „Mit Ljudmila Ulitzkaja kehrt das Erzählen in die russische Literatur zurück.“ - Ein fröhliches Begräbnis ist von ebendieser Güte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite