Eine Rezension von Rainer Jahn


Nicht frei von der Redundanz des Alltags

Nancy Thayer: Aber die Liebe bleibt

Roman. Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes.

Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M. 1998, 336 S.

 

Am Anfang schien die Geschichte interessant. Linda und Owen McFarland, beide Schriftsteller, auf einer Farm lebend, sind seit sieben Jahren überaus glücklich verheiratet. Diese Ehe war für beide der zweite Versuch, und diesmal ging es gut. Jeder Ehepartner hat ein Kind aus der ersten Ehe mitgebracht, Emily (15) ist Lindas Tochter, und Bruce (17) ist Owens Sohn. Natürlich, Anfangsschwierigkeiten hatte es gegeben, aber nun ist eine wirkliche Familie entstanden, in der alle durch Liebe und Verständnis miteinander verbunden sind. Gegenwärtig leben beide Kinder in der nächsten Kreisstadt, wo sie die High-School besuchen, im Internat. Sie bringen exzellente Leistungen, haben viele Freunde, sind beliebt und ganz offenbar glücklich.

Da unternimmt Emily einen Selbstmordversuch. Sie wird in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert und beschuldigt ihren Stiefbruder der brutalen Vergewaltigung. Der aber ist vollkommen überrascht und zutiefst empört, weist jede Schuld weit von sich. Er fürchtet Nachteile für seine Beziehung zu Alison, dem Mädchen, das er liebt, und für seine Bewerbung an die Universität. Alles sieht nach einem Racheakt der sich vernachlässigt fühlenden eifersüchtigen Stiefschwester aus. Die Eltern sind verstört, der Familiensinn bekommt Risse, denn jedes Elternteil glaubt in dieser Situation natürlich zuerst dem eigenen Kind. Es gibt Zerwürfnisse, und am Ende verläßt Linda die Farm, sie zieht in die Stadt.

Da wird Bruce verhaftet. Alison hat Anzeige erstattet, auch sie bezichtigt ihn der Vergewaltigung. Wieder vermutet der Leser eine Verwechslung oder ein Komplott gegen den Jungen, den sowohl Emily als auch Alison süchtig umschwärmen und der als intelligent und aufgeweckt charakterisiert wird, als nett und freundlich, „sieht sehr gut aus, ein beneidenswerter junger Mann, den man einfach gern haben muß“. Was zum Teufel sollte den zu solchen Untaten bewegen?

Aber leider wird nun kein Rätsel aufgelöst, sondern die Mädchen beschuldigen Bruce zu Recht. Ein Psychologe erklärt seine Brutalität am Ende mit Minderwertigkeitsgefühlen, die aus der Vernachlässigung durch die leibliche Mutter („eine offene, blutende, peinigende Wunde“!) resultieren könnten. Das Gefängnis bleibt ihm erspart, weil Alison die Anzeige zurückzieht, und Linda und Owen nähern sich vorsichtig wieder einander an. Sie werden weiter über beiden Kindern wachen, denn „die Liebe bleibt“.

Diese Entwicklung ist, wie wohl ersichtlich, zutiefst unbefriedigend, enttäuschend und ärgerlich, denn fast bis zum Ende werden nur positive Aussagen über den Missetäter gemacht, in seine Psyche wird keinerlei Einblick gewährt, die leibliche Mutter hat keine Rolle gespielt. Da ist die Überraschung dann groß. Minderwertigkeitsgefühle sind auch kaum ein Argument, das einleuchtet, lassen ihm doch Intellekt, Umgangsformen und Outfit die Herzen ohnehin zufliegen (er könnte ja ohne Gewalt erhalten, wonach ihm der Sinn steht), und zeit seines Lebens hatte er einen verständnisvollen Vater und seit dem zehnten Lebensjahr auch eine liebevolle (Stief-)Mutter an der Seite. Der Weg zu Glück und Erfolg war vorgezeichnet - warum ihn also vernunftwidrig gefährden?

Darauf bekommt der Leser keine Antwort. Wenn er diese Geschichte mit Interesse und Anteilnahme bis zum Ende verfolgen soll, hätte sie nicht so flach erzählt werden dürfen, dann hätte die Autorin tiefer in die Psychologie der Figuren eindringen, rechtzeitig Hintergründiges andeuten und Gefährdungen überzeugender motivieren müssen. Ihre Story ist ohnehin nicht frei von Unwahrscheinlichkeiten. Daß Owen ausgerechnet die hinterhältige, aufdringliche und eifersüchtige Nachbarin Celeste mit Familiengeheimnissen beglückt und daß der intelligende Bruce ausgerechnet beim Bewerbungsgespräch an der Universität eigentlich ohne Grund aggressiv ausrastet und damit jede Chance verspielt, ist unerklärlich ganz und gar. Wenig überzeugend ist auch die Figur des schönen, umschwärmten Jorge, mit 19 Jahren wohl der älteste der Schüler. Was sollte ihn bewegen, der 15jährigen Emily nachzulaufen, die ihn gerade zuvor zurückgestoßen hatte, und ihren Stiefbruder Bruce zu loben, der ihn zusammenschlug?

Es ist nicht das erste Buch, das Nanc Thayer (54) - die Englische Literatur studierte, später unterrichtete und heute in Massachusetts lebt - geschrieben hat. Bei Krüger erschienen bereits ihre Romane Frauen aus guter Familie (1994) und Gläsernes Glück (1997). Auch diesmal sieht man, daß sie eine Story in einer einfachen, stilsicheren Sprache so aufzuschreiben vermag, daß eine Leserschaft unterhalten wird. Ihre Dialoge lesen sich wie von Menschen gesprochen, aber sie sind nicht befreit von der Redundanz des Alltags, und sie haben keinen Untertext, keine zweite Dimension. So entsteht der Eindruck eines unkomplizierten Buches für Heranwachsende, aber Literatur, die psychologisiert und problematisiert, die das Innovative und Besondere einschließt, schreibt man so nicht. Wo herausgehobene Sprachbilder bemüht werden, bleiben sie fragwürdig wie die folgenden: „Diese unsichtbaren Brücken, die sich zwischen ihnen gesponnen hatten, waren wie Fädchen, die sich fest um ihren Körper wickelten.“ (S. 267) „Die Liebe zu ihm wog in ihrem Herzen wie ein von Schwären gezeichneter Stein.“ (S. 281) Ein Hochgefühl hinterläßt die Lektüre ganz gewiß nicht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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