Eine Rezension von Sebastian Kiefer


... bevor man sich ans Dichten macht

Raoul Schrott: Tropen
Über das Erhabene.

Carl Hanser Verlag, München 1998, 213 S.

 

Bescheidenheit ist seine Sache nicht, des in Tunis und Landeck aufgewachsenen, derzeit in Irland weilenden Dichters Raoul Schrott. Der (deutschen) Gegenwartsliteratur bescheinigt er (in den Grazer Poetikvorlesungen) einen eklatanten Mangel an Neugier auf Welt und Kosmos, ein Versinken in narzißtischer Selbstbespiegelung und alchimistischer Kombinatorik. Der Zufall regiere das heutige Kunstwerk, dem die (historische und mythische) Welt abhanden gekommen ist, die Musen nichts mehr gelten. Das Wissen um die ursprünglich magische, mythische, bildkräftige Dimension der Poesie ist verloren, das dichterische Handwerk daher auf den Hund gekommen, und die Urkundengläubigkeit der Philologen tut ein Übriges, um Catull und Sappho aus dem „kollektiven Gedächtnis“ zu vertreiben. Eine solche Diagnose, weniger originell als unverfroren, wäre vielleicht ungehört in den Archiven verschwunden, hätte der junge Dichter nicht zuvor mit einem Vademecum Sensation gemacht: „Die Erfindung der Poesie“, eine komplett selbstverfertigte Anthologie der „ersten viertausend Jahre“ Dichtungsgeschichte, angefangen mit dem ältesten Orient über die Griechen bis ins hohe Mittelalter. Gewiß, es kam, wie es kommen mußte, wenn einer solche Räume betritt, aus einem Dutzend Sprachen übersetzt - Fachleute rügten Kategorienfehler, vorschnelle Ableitungen, mangelnde Sprachkenntnis, falsche Jahreszahlen, das Vertrauen in längst überholte Ausgaben. Doch kann es keinen Zweifel daran geben - des unerhörten Echos im Feuilleton und alleine schon der Verkaufszahlen wegen nicht -, daß Schrott eines gelungen ist: Die Lebenskraft längst nur noch dem Fachgelehrten geläufiger, mythisch, kultisch, politisch oder weltanschaulich gebundener Texte verflossener Jahrtausende zu beweisen. Unerhört nahe, als läge das nicht viereinhalbtausend Jahre, sondern allenfalls ein, zwei Generationen zurück, ruft eine sumerische Priesterin in Schrotts Übertragung ihre Götter an. „Die weiße mähne des meers / und die tonsur des „windes“ - Verse nicht des 19., sondern des 9. Jahrhunderts, der Poet überdies ein Mönch und irischer Zunge. Solche Überraschungen machten seine Anthologie erfolgreich und geben seiner Rede von der Irre der zeitgenössischen (deutschen) Poesie Gewicht. Nur durch sie wird aus seinem Dekret, man habe heute gefälligst wieder das Handwerk zu erlernen, etwas anderes als Schulmeisterei: Der Sinn für Rhythmus, Assonanz und Reim, für das genaue Bild und die emotionale und motorische Dimension der Prosodie sei neu zu schulen, es heiße heute, sich in Übersetzung zu üben und erst einmal die Geschichte der Poesie zu verinnerlichen, bevor man sich ans Dichten macht. Dichten nämlich, ginge es nach Schrott, ist alles andere als ein Sprachspiel, es fußt auf dem tiefsten und ältesten Weg der Aneignung von Welt, ihrer Transformation in Zeichen, Symbol und - vor allem - in Sprachbild und Metapher. (In seiner apodiktischen Art klingt das so: „Die Wahrheit war nie etwas anderes als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen, Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie es sind. Ihre Keimzelle ist die Poesie, nichts anderes.“)

Schrott nimmt, ganz in der Nachfolge des Novalis, die poetische Weltaneignung als Fundament des Erkennens, ja, er geht so weit, die von der neueren Physik beschriebene Doppelnatur des Lichtes als Äquivalent der Metapher in der Natur zu verstehen: So wie diese zugleich Welle und Teilchen ist, so verhalten sich die beiden im Sprachbild kombinierten Vorstellungen zueinander. (Das ist gewiß, falls es überhaupt miteinander in Bezug gesetzt werden könnte, ihrerseits höchstens eine metaphorische Parallele.) In seiner neuesten Sammlung mit Gedichten tritt Schrott den Beweis an, wie sich die Analogie von Metapher und physikalischer Natur der poetischen Inspiration dienstbar machen läßt: „Wenn es um die Darstellung von atomaren Phänomenen geht, sagte Nils Bohr, kann die Sprache nur wie in der Poesie verwendet werden. Auch ein Dichter ist ja nicht so sehr damit beschäftigt, Fakten zu beschreiben, als Bilder und Analogien zu entwerfen.“ Das ist Wasser auf Schrotts Mühlen, und er läßt den Ausspruch seinen ersten Teil einleiten. Nach einem schon in den vorigen Bänden geübten Verfahren setzt er einen Gedanken wie den Bohrs, oder auch eine Beobachtung, eine Maxime oder Zitat vor jedes Gedicht, das dann, mal verdeckt als Einsprengsel, mal wie ein versifizierter Traktat, damit arbeitet. Neun Gedichte reflektieren, umgarnen, spiegeln, rekreieren zu Anfang Phänomene der „Physikalischen Optik“ (fünf davon sind für die Grauer Vorlesungen geschrieben): Die Bewegungen des Handgelenkes beim nächtlichen Verseschreiben werden assoziiert mit den Bewegungen eines freischwingenden Pendels, dessen „Kreisen in eine bei jedem Mal andere Spirale“ ausbricht, bevor es in der Mitte zum Stillstand kommt; die „minimalen Unbestimmbarkeiten“ vom sich im Fluß unter einer Brücke spiegelnden Mondlicht mit ineinanderfließenden Doppelpunkten; Sätzen vom Übergang der Materie „auf der subatomaren Ebene in eine Welt von Wahrscheinlichkeiten“, in der einzig der Akt des Messens Eindeutigkeit schaffen kann, steht eine dichterische Skizze des kriegsschwangeren syrischen Grenzlandes gegenüber usf. Gemäß seinem Programm ist es Schrott ebenso um eine präzise Beobachtungssprache zu tun wie um die Fortschreibung des traditionellen Sprachbildes: Seine Verse sind durchsetzt mit Dingen, die eigentlich schon längst totgesagt waren, der Genitivmetapher zuallererst, dem vergleichenden „wie“ (das Benn vor einem halben Jahrhundert zum Mittel des Banausen erklärte). „eos / der mythos ist genauer noch als die metrie von sphären“ wird hier unbekümmert um alle moderne Wissenschaftsphilosophie gedichtet, Peter Huchels Lieblingswort „blaken“ kurzerhand eingebaut, dessen berühmte Metapher „Alphabet der Blitze“ zu „alphabet der bäume“ variiert, und unaufhörlich sucht Schrott das entlegene Wort, die aufwendige Instrumentation.

Dennoch ist er bescheidener geworden gegenüber dem letzten Band, was die Menge der eingestreuten Bildungsgüter angeht (denen man des öfteren anmerkte, daß der Kleine Pauly, die Tuskulum-Bücherei und der Baedeker daneben lagen); gemäßigter in der Suche nach dem überraschenden, virtuosen Bild. (Dinge vom Schlage „karbonpapier des blickes“ oder „tautologie der ordinarien“ läßt Schrott jetzt nur mehr ganz vereinzelt durchgehen, doch kommen sie durchaus noch vor, etwa wenn vom Himmel gesagt wird, er „stottert die sterne langsam heraus“).

Stark ist Schrott auch diesmal in der Stringenz seiner Konzeption, in der Beredsamkeit und Modulationsfähigkeit seiner Beobachtungssprache, in der Kombination des Anschaulichen mit der abstrakten Reflexion. Variantenreich führt er sein Programm durch, sich nicht von der Intuition oder Ich-Zuständen, sondern vom Angelesenen, Bewährten und Beobachteten leiten zu lassen. Wie im Band Hotels können diese Katalysatoren des Gedichtes musealisierte Kunstdinge sein, etwa jener Frauentorso aus der Asche des Vesuv, den das ausgehende 19. Jahrhundert „zu einem bürgerlichen Kultobjekt, wie die berühmte ‘Unbekannte aus der Seine’, Gradiva oder die Aglauriden“ machte - „eine metonymie, die zu stein geworden war“. In einem Rollengedicht können Partien der Hesiod-Legende, Stationen einer „Geschichte des Lichtes“ (gemeint sind antike Spekulationen über die physikalische Natur des Lichtes) oder der „Perspektive“ in der italienischen Renaissance nacherzählt werden, doch ebenso Einsteins Beobachtungen im Vorfeld der Relativitätstheorie und Erfahrungsberichte zweier Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Und durch alles hindurch hören wir den Satz Bohrs von der Analogie der physikalischen und der poetischen Beschreibung der Welt.

Das „Erhabene“, seit zwanzig Jahren ein Modewort der geisteswissenschaftlichen Diskurse, verleiht dem Band den Untertitel. (Daß „Tropen“ nicht nur, wie auf dem Umschlag behauptet, Sprachbilder sind, hatte Schrott selbst andernorts genugsam ausgeführt.) Es ist, wie uns ein Schlußwort lehrt, ein „Surrogat für eine Vorstellung des Heiligen (...), das nicht mehr nur kakonisch zu verstehen ist: das Übermächtige und Überwältigende“ einerseits, „eine Annäherung an das, was jenseits menschlicher Belange steht, um sich der eigenen Endlichkeit bewußt zu werden“. Erhaben ist Galileis Blick in den Kosmos, obwohl oder gerade weil er sich für ihn von Gott getrennt hat und der Erdenmensch seine Zentralstellung verlor: Das grenzenlos Übermächtige des Alls vermag der Mensch zum ästhetischen Schauer umzudeuten - eben mit jener Kategorie des Erhabenen, ganz so, wie mit ihr der alles Faßliche übersteigende Schrecken des Weltkrieges seine Formlosigkeit verlieren kann. Die Metapher hinwiederum kann hier helfend eingreifen: Noch die fremdeste Natur, die inhumanste Geschichte kann im Licht der Metapher uns erscheinen, als leite ein (uns unbekannter) Intellekt sie: „Selbst die Wellen des Meeres erscheinen niemals nur willkürlich: es ist, als wäre das ein Körper, der sich regt. Als besäße die Natur eine Schrift, deren Alphabet man teilweise entziffern, aber nicht zu einer Sprache zusammensetzen kann.“ Daher der zweiteilige Titel: Tropen. Über das Erhabene.

Wie immer man zu einer solchen konsequent konservativen Konzeption des Gedichtes heute steht, ob man sie durch Sprachmächtigkeit und Frische legitimiert sieht - eines bleibt Schrott uns noch immer schuldig: Den Beweis seines Handwerks, was den Rhythmus angeht. Fast durchweg sind seine Verse selten rhythmisch durchgeformt - ganz im Gegensatz zum „vers libre“ des 18. Jahrhunderts, den man eben deshalb nicht als Urbild rhythmischer Ungebundenheit verstehen darf. Das Enjambement, von Schrott inflationär gebraucht, hat bei ihm fast immer nur einen Sinn: Die Länge eines Satzes so zu beschneiden, daß durch den visuellen Eindruck gleichlanger Zeilen der Eindruck eines durchkomponierten Ganzen suggeriert wird. Daß „das meer ein ölgetränkter / fetzen stoff“ ist, mag man anschaulich und reizvoll finden, der Bruch in der Mitte ist, wie Hunderte andere in diesem sonst so eindrucksvollen Band, schlichtweg Willkür, eine Verlegenheitslösung. Von Talenten seiner Größe dürfen wir - nächstens - auch in dieser Hinsicht Bedeutenderes erwarten.

Raoul Schrott wurde am 1.4.99 für sein Buch mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. d. Red.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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