Eine Rezension von Herbert Mayer


Der zweite Mann hinter Ulbricht

Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben
Erinnerungen und Visionen.

Edition Ost, Berlin 1998, 336 S.

 

Der Autor gehörte zu den letzten Zeitzeugen, die - aus der Vorkriegs-KPD und antifaschistischen Widerstandsbewegung kommend - in den Nachkriegsjahren die SED und die DDR nicht nur erlebt, sondern von führenden Positionen aus mitgestaltet haben. Im vergangenen Jahr verstarb er 91jährig. Das macht seine Autobiographie interessant, verlangt aber auch, die Subjektivität seiner historischen Betrachtung zu beachten. Schirdewan galt als Kontrahent von Ulbricht. Das hieß jedoch noch lange nicht, daß er „den Aufstand gegen Ulbricht“ organisierte, wie der Titel seines ersten Erinnerungsberichts reißerisch verkündete (vgl. BLZ 8/95).

Durchweg chronologisch angelegt, läßt Schirdewan in zwanzig Abschnitten sein Leben Revue passieren, übermittelt dem Leser seine Einschätzungen und geht seinen Erinnerungen nach. Ein Anhang enthält zeitgenössische, Schirdewan betreffende Dokumente (u. a. ein Auszug aus einem „Augenzeugenbericht über illegale Aktivitäten des KJVD“ 1933, Auszüge aus seinen Reden zwischen 1953 und 1957, einen Bericht Andropows an das KPdSU-ZK, Notizen über seine Absetzung 1965). Allerdings fehlen nicht nur die Quellenbelege, die Auszüge aus seinen Reden erweisen sich bei näherem Hinschauen als Ansammlung von Zitaten und damit unnötig. Leider haben sich auch in den Textteil einige sachliche Fehler eingeschlichen (die KPD (O) habe sich mit der SAP vereinigt, die KP Polens sei 1928 - statt 1938 - aufgelöst worden, für die KPD wird die „Einheit“ - und nicht die „Internationale“ - als theoretisches Organ angegeben).

Karl Schirdewan wurde 1907 in Stettin geboren. Seinen Vater hatte er nicht gekannt, seine Mutter Josephine Aretz mußte ihn Pflegefamilien überlassen, bis ihn die Breslauer Familie Schirdewan adoptierte. Streng katholisch erzogen, beendete er 1923 die Mittelschule, konnte aber nicht wie gewünscht Buchhändler werden. Er wurde Lehrling in einer Getreidehandlung, dann Laufbursche und Bürogehilfe. Mit 16 Jahren trat er in den kommunistischen Jugendverband, 1925 in die KPD Ernst Thälmanns ein. Dies prägte ihn. Er betont, Thälmann in allen Auseinandersetzungen verteidigt zu haben. Nur so erklärt sich, daß er Thälmann weiterhin idealisiert. Diese unkritische Sicht reflektiert sich in Einschätzungen, daß Thälmann ohne die Vorgaben der Komintern eine selbständige und wesentlich flexiblere Linie entwickelt hätte und „den stetigen Aufstieg der Partei“ gewährleistet habe. Dennoch geht Schirdewan insgesamt kritisch mit der kommunistischen Bewegung und dem Staatssozialismus um. Ob die dargelegte Kritik stets tatsächlich damaligen Erkenntnissen entsprach und nicht spätere Auffassungen darstellt, kann nicht eindeutig nachvollzogen werden.

Ende der zwanziger Jahre wurde Schirdewan Mitglied des ZK des Kommunistischen Jugendverbands Deutschland und dessen Bezirksvorsitzender in Schlesien, zu einer Zeit, als Erich Wollweber Vorsitzender der KPD in Schlesien war. 1931 übernahm er erstmals eine hauptamtliche Funktion, die Leitung des Verlags „Junge Garde“. Nach dem Machtantritt des Faschismus leistete er illegale Arbeit, gehörte im November 1933 zu der Inlandsleitung des KJVD. Im Februar 1934 verhaftet, wurde er wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Er überlebte Folter, Krankheit, Hunger und Wunden, Sonderhaft, Polizeigefängnis am Alexanderplatz, Zuchthaus, Konzentrationslager (Sachsenhausen, Flossenbürg) und Todesmarsch.

Die Zeit bis Kriegsende nimmt zwei Drittel von Schirdewans Erinnerungen ein, wobei er teilweise sehr ins Detail geht. Die Jahre nach 1945 geraten insgesamt etwas kurz, insbesondere der Abschnitt von 1953 bis 1958, dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Schirdewan vermeidet, das zu wiederholen, was er in seinem ersten Erinnerungsbuch niedergeschrieben hat, so daß sich dieses zur Gesamtschau nicht erübrigt.

Zunächst in Bayern für die KPD arbeitend, war er seit August 1945 in der Parteizentrale in Berlin, mußte dann aber 1946 aufgrund seiner Tbc für ein Jahr pausieren. Im Frühjahr 1947 wurde er Leiter des Sektors „Studium der illegalen Parteigeschichte“ im Parteivorstand der SED, 1949 Chef seiner Westkommission, im März 1952 1. Sekretär der Landesleitung Sachsen, dann Bezirkssekretär in Leipzig. 1953 schaffte er den Sprung in die engere Machtzentrale der Partei. Er wurde als ZK-Mitglied kooptiert und - nachdem er an der „Zerschlagung“ der „Fraktion Zaisser-Hernstadt“ mitwirkte - Mitglied des Sekretariats und des Politbüros der SED. Damit war er faktisch der zweite Mann hinter Ulbricht geworden. Schirdewan vermerkt, daß es für ihn auf der Hand lag, daß dies nicht die Idee Ulbrichts, sondern die der Sowjets war. Ob er tatsächlich von den Sowjets als Gegengewicht zu Ulbricht aufgebaut wurde, bleibt weiterhin unbewiesen. Seinen Haß und seine persönliche Abneigung gegen Ulbricht und Co. (z. B. „Intrigant Fröhlich“) sowie seine Sympathie zu Ackermann, Dahlem und anderen (Grotewohl wäre der „größte Gewinn für unsere Partei“ gewesen) läßt er erneut deutlich merken. Für Schirdewan folgte dem 17. Juni 1953 nur eine Schadensbegrenzung, die notwendigen Korrekturen blieben aus: „Der entscheidende Fehler bestand meiner Meinung nach darin, die Schlußfolgerungen aus den Juni-Ereignissen nicht in allen sozialistischen Staaten und mit aller notwendigen Konsequenz ausgewertet zu haben.“ 1956 hegte er nochmals Hoffnung auf eine kritische und selbstkritische Auseinandersetzung über Verbrechen in der Stalinära, der Ulbricht aus dem Wege gehen wollte. Schirdewan, der in dieser Zeit an der Option eines vereinigten Deutschlands festhielt, überstand die Tauwetterperiode nicht. Ihm wurde u. a. vorgeworfen, die Vorgänge 1956 in Ungarn zu verharmlosen, die innerparteiliche Entwicklung nicht prinzipienfest zu bewerten und die deutsche Frage einseitig zu beurteilen. Er verlor Einfluß und Posten. Die „Gruppe Schirdewan-Wollweber“ wurde des Revisionismus und der Fraktionstätigkeit bezichtigt, auf der 35. Tagung des SED-ZK im Februar 1958 wurde Schirdewan zusammen mit dem Staatssicherheitschef Ernst Wollweber und Fred Oelßner ausgeschlossen. Persönlich ist für ihn schwer erträglich, daß er zum Parteifeind und Konterrevolutionär abgestempelt wurde. Seinem politischen Sturz folgte die Strafversetzung zum Leiter der Staatlichen Archivverwaltung Potsdam. Über dieses Amt, das er bis 1965 behielt, berichtet er nur knapp, auch die Ereignisse von 1968 erwähnt Schirdewan nur kurz, um dann das Wendejahr 1989 zu streifen.

Seine Hoffnung auf Rehabilitierung erfüllte sich erst im Januar 1990, als ihn die SED/PDS rehabilitierte. Deren Bruch mit dem Stalinismus im Dezember 1989 löste bei ihm Genugtuung aus, da dies seiner jahrzehntelangen Überzeugung entsprochen habe. Er habe sich schon lange nicht mehr mit der SED, sondern nur mit der sozialistischen Tradition und Programmatik identifiziert. Resümierend hält er an der Vision einer sozialen und demokratischen Zivilisationsform fest, sie erfordere, die Sozialisten „weltweit in einer großen Bewegung der demokratischen Linken zusammenzuführen“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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