Eine Rezension von Licita Geppert


Ein Splitter vom Kreuz

Iain Pears: Das Urteil am Kreuzweg

Roman. Aus dem Englischen von Edith Walter und Friedrich Mader.

Diana Verlag, München, Zürich 1998, 796 S.

 

Ein seltsamer Empfehlungsbrief führt den venezianischen Kaufmannssohn Marco da Cola ein in die illustre, versnobte, verstaubte Gelehrtenwelt der altehrwürdigen Universitätsstadt Oxford. Es ist das Jahr 1663.

Die Zeit der Restauration ist auf Cromwells Herrschaft gefolgt. Aber die Fehde zwischen Royalisten und Puritanern, Katholiken und Anglikanern ist noch lange nicht beendet. Es herrscht ein klirrender, denunziatorischer Frieden. Dennoch gelingt es den Gelehrten des New College, sich in aller Ruhe mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit auseinanderzusetzen.

Marco da Cola, der im Auftrage seines Vaters eine erfolglose Reise nach London zur Regelung geschäftlicher Angelegenheiten unternommen hatte, ist mittellos und versucht, sich als Arzt zeitweilig den Lebensunterhalt zu verdienen. Sein überkandideltes höfisches Betragen bringt ihm Mißtrauen ein, sein offenes Wesen jedoch verschafft ihm auch eine Reihe von Freunden und Gönnern. Seine erste, durchaus Aufsehen erregende Tat ist die kostenlose Behandlung einer alten Frau, der Mutter von Sarah Blundy, einem jungen Dienstmädchen.

Sarah wird der Kristallisationspunkt in diesem gewaltigen Epos. Sie wird des Mordes an Dr. Grove, einem unsympathischen, aber geachteten Fellow des New College, beschuldigt. Sie wird schließlich dafür hingerichtet, denn alle Indizien deuten auf sie hin, und Sarah selbst schweigt beharrlich. Damit hätte der Fall abgeschlossen sein können. Aber der weitschweifig-geziert-geschwätzige Bericht, den Marco da Cola nach mehr als zwanzig Jahren an seinen einstigen Freund und Kollegen, den späteren Londoner Modearzt Richard Lower sendet, fordert andere Beteiligte zu Gegendarstellungen heraus. Von nun an fesselt das Buch seinen Leser, was der umständliche, gespreizte Stil des ersten Teiles nicht vermochte. Wurden wir zunächst Zeugen der bizarren Welt der Gelehrsamkeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts, in der sich hochgebildete Männer damit beschäftigten, mittels zum Teil grausamer Experimente an lebenden Tieren und Menschen, Binsenweisheiten „wissenschaftlich“ neu zu erdenken (wie zum Beispiel, daß die Luft zum Atmen lebensnotwendig ist) oder einander mit Bibelzitaten schachmatt zu setzen, so kehren wir nun zurück in das banale Leben mit all seinen Rankünen und Widerwärtigkeiten.

Jack Prescott, ein dem verarmten Landadel entstammender junger Mann, versucht beharrlich, gegen alle Indizien, die Unschuld seines Vaters an einem Komplott im Bürgerkrieg nachzuweisen. Sein krankhafter Gemütszustand, überall düstere Machenschaften zu wittern, verfestigt sich durch dieses Bestreben derart, daß er seinen Onkel lebensgefährlich attackiert und dafür zum Tode verurteilt werden soll.

Es gelingt ihm, vor seiner Hinrichtung zu fliehen und Schutz gerade bei jenem Menschen zu finden, dessen Tod er eigentlich herbeiführen wollte: John Thurloe, dem einst gefährlichsten Mann unter Cromwell. Prescott berichtet Dinge über da Cola, die dieser geflissentlich unerwähnt läßt, und so treten zum erstenmal Zweifel am Wahrheitsgehalt der Darstellungen des Venezianers auf. Durch ihn wird aber auch Sarah zur Hure und Hexe, seine Aussage führt zu ihrer Verurteilung.

Beide Auslassungen finden Ergänzung durch John Wallis, den größten englischen Mathematiker vor Newton, Universitätsprofessor in Oxford und Gründungsmitglied der Royal Society. Wallis, der gleichzeitig Cromwells berühmter Geheimschriftexperte war und seit dieser Zeit von paranoiden Vorstellungen gepeinigt wird, arbeitet nunmehr als Kryptograph für den König. Über ein weitverzweigtes Spitzelnetz verfügend und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, erfährt er mancherlei über da Cola, was dieser sorgsam geheimzuhalten sich mühte. Wallis wittert Verrat, Verschwörung und Mord, aber er weiß auch um die Unschuld Sarah Blundys. Aus Staatsräson verhindert er jedoch ihre Freilassung und muß von nun an mit noch größerer Schuld leben.

Gänzlich verwirrend, aber letztendlich den Knoten zerschlagend, ist der letzte Bericht des unscheinbaren Anthony Wood, der als kauziger Archivar, Lokalhistoriker und Antiquar die Fäden wieder zu einem sinnvollen Ganzen verbindet. Seine Version ist die verblüffendste von allen, bringt sie doch eine gänzlich unerwartete Wendung. Trotz der unstandesgemäßen Liebe, die Wood für Sarah empfindet, ist er der einzige, der die Ereignisse von einer Warte des Außenstehenden verfolgen kann und der durch seinen Zugang zu den Archiven darüber hinaus die vielen widersprüchlichen Informationen wie ein Puzzle zu einem Bild zusammenzufügen vermag. Der Schluß wird zu einer Art Parforce-Ritt, und der Leser kann erleichtert, wenn auch immer noch verwirrt aufatmen.

Pears, der unter anderem auch Kunsthistoriker ist und bereits andere Kriminalromane veröffentlicht hat, ist mit Das Urteil am Kreuzweg ein ungemein komplexes Buch geglückt. Seine ausgezeichneten historischen Kenntnisse, gepaart mit literarischem Geschick und Sprachgefühl, erwecken die kompliziert strukturierte Welt des alten Oxford zum Leben.

Dies ist um so verblüffender, als er in seinem Roman so große und bedeutende Geister (im Personenregister hervorragend dokumentiert) mitwirken läßt wie zum Beispiel Robert Boyle, den „Vater der Chemie“, John Locke, den großen Philosophen, Christopher Wren, den Astronomen und späteren Erbauer von St. Paul’s Cathedral. Dadurch gewinnt die Handlung eine unvergleichliche Authentizität, während die Spannung erhöht wird durch das Eingreifen von mächtigen Staats- und Kirchenmännern der alten und der neuen Macht. Pears verleiht ihnen allen glaubwürdige Charaktere und spinnt so einen Handlungsfaden, der sich alsbald zu einem engen Gewebe verdichtet, um dann wieder alles in Frage zu stellen, den Leser in die Irre zu führen.

Neben der rein kriminalistischen verfügt das Buch über eine politische, eine moralische, eine philosophische und eine religiöse Ebene, auf denen sich das Spiel mit der Wahrheit respektive den jeweiligen Wahrheiten gekonnt bewegt. Weil nichts so ist, wie es scheint, muß es so sein, wie es die Opportunität gebietet. Daß der deutsche Titel direkten Bezug auf die Leidensgeschichte Jesu nimmt, entspricht durchaus den Intentionen des Autors, speziell in der Figur der Sarah Blundy, die diesen Weg bis hin zur Auferstehung nachvollziehen wird, was sich dem Leser allerdings erst relativ spät erschließt.

Dieses kluge, spannende, glänzend geschriebene und vielschichtige Buch war wirklich ein großer Lesegenuß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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