Eine Rezension von Waldtraut Lewin


Die Arbeit des Erinnerns

Christa Müller: Tango ohne Männer

Roman einer Mutter.

Digitaler Vervielfältigungs- und VerlagsService - DVS - Frankfurt/M. 1998, 271 S.

 

Das ist eine Schlüsselszene des Buches: Elsa, die Mutter der Erzählerin, im Jahr 㤵 in einer Kneipe bei Leipzig. Ein Bandoneonspieler ohne Beine spielt Tangos. Und die jungen Frauen, alle Witwen des verlorenen Krieges, tanzen ihre Lebenssehnsucht, ihre Gier nach Liebe und Glück, Bein an Bein geschmiegt, süchtig, wie besessen. Auf dem Nachhauseweg dann die Vergewaltigung durch die Russen.

Was Christa Müller hier (endlich, nach fast zehnjähriger Pause; Die Verwandlung der Liebe erschien 1990) vorlegt, ist ein Buch über die um ihr Lebensglück und ihren Anspruch betrogenen Frauen unseres Jahrhunderts, deren Männer, Söhne, Väter, Geliebte und Brüder in die großen Kriege zogen und gar nicht oder an Geist und Leib verstümmelt zurückkamen. Erzählt wird, ausgehend von Elsas Tod im Jahr 㥆, ihr Leben, das vielfältig verknüpft ist mit den Leben und Schicksalen der älteren Generation und, über die Erzählerin, mit dem der Tochter und der Enkel.

Das ist beileibe nicht einfach zu lesen. Kein griffiger „Familienroman“ im Stil von Hannah und ihre Töchter, kein mit dem Pfeil der realen Zeit fügsam dahinlaufendes Garnknäuel, das sich chronologisch abspult. Vor allem die ersten hundert Seiten mit ihren Brüchen und Sprüngen, ihrem ständigen Wechsel der Zeitebenen und der Erzählerperson und ihrer überbordenden Fülle von Figuren und Verwandten fordern dem Lesenden höchste Aufmerksamkeit ab. Vielleicht hätte eine vom Druck- und Satzbild her professionellere Gestaltung geholfen, etwa durch verschiedene Schrifttypen, die Dinge besser zu „sortieren“ - das Buch ist als Buch auffällig unbeholfen gemacht. Aber immerhin, es ist gemacht worden, es ist da, und wir sollten nicht undankbar sein, wenn denn kein großer Verlag den Mut zu diesem sperrigen Manuskript gefunden hat.

Tango ohne Männer in eines der gängigen Schemata einzuordnen dürfte schwerfallen. Es ist, obwohl es ausschließlich um die Schicksale von Frauen geht - die Männer haben lediglich Statistenrollen, falls sie denn da sind -, kein feministisches Buch. Den Protagonistinnen, bis vielleicht auf die Erzählerin (aber auch das erst im nachhinein), fehlt das Bewußtsein ihrer selbst, das Gefühl für ihr verpfuschtes oder kleinkariertes Leben wird nie über das Lamento hinaus artikuliert. Die Heldinnen, vor allem auch Elsa, agieren auf keiner intellektuellen Ebene. Sie brechen nicht aus aus ihrer Welt, leiden in ihr, meutern wohl auch einmal. Aber dabei bleibt es. Sie sind „kleine Leute“, und es ist lange her, daß dieses Reich zwischen „oben“ und „unten“ so genau, so detail- und kenntnisreich dargestellt wurde. Müller beschönigt nichts und wiegelt nichts ab.

Es ist auch, sieht man genau hin, kein Roman, soweit man unter diesem Begriff denn doch immer noch mehr oder weniger die Entwicklung einer Figur im Koordinatensystem von Raum und Zeit versteht. Die Autorin ist - ob bewußt oder unbewußt - in der Erzähltradition, die Lawrence Durell in den 50er Jahren mit Alexandria Quartet einleitete: prismatisch. Relativitätstheorie statt klassische Physik. Zeit und Raum sind irrelevant, was das Verhältnis der Episoden zueinander angeht. Hingegen wird mit höchster Genauigkeit und absolut unbestechlicher Beobachtungsgabe das Innere der jeweiligen Episode gestaltet. Christa Müller kommt von der Lyrik her und kann es nicht verleugnen. Den Lyrikern ordnet sich die Welt anders. Und über die Kraft und die sinnliche Fülle der einzelnen Beschreibungen stellt sich die Faszination des Buchs für mich hauptsächlich her.

Wer sich durch das Gestrüpp der ersten zwei Lesestunden hindurchgearbeitet und den Überblick über das Personengeflecht gewonnen hat, wird reich belohnt. Spätestens im dritten Kapitel blüht Tango ohne Männer zu großer Schönheit auf. Elsas letzter, herbstlicher Urlaub, wo sie, schon vom Tode gezeichnet, noch einmal die Welt, den Harz sieht und genießt - das gehört für mich zu den sehr beglückenden Lesemomenten. Die Begegnung mit dem „Engel“, ihre Gesichte in der Tropfsteinhöhle - all das ist ohne Pathos und genau besonders in der Andeutung.

Das Buch ist ein Erinnerungsbuch. Und Erinnern ist schmerzlich. Es wird gleichsam mit Tränen in der Stimme erzählt. Das bedeutet aber nicht, daß irgend etwas beschönigt wird. All die Frauen, Elsa zumal und ihre Erzählerin-Tochter, sind Opfer und Täter zugleich. Der Umgang der Verwandten untereinander, die Herbheit der Beziehungen, die Unfähigkeit zu Zärtlichkeit und Nähe, die Mißverständnisse, die Haßausbrüche und unartikulierten Sehnsüchte, das Befangensein in hergebrachten Denk- und Verhaltensmustern - all das wird nicht ausgespart. Und die Schuldgefühle der erzählenden Figur, das Wissen um die unwiederbringlich dahingegangenen Gelegenheiten zu Verständnis und Toleranz, grundieren den Lakonismus der Darstellung.

Der Augenblick des Todes wird für Elsa identisch mit dem Moment der Befreiung und des Glücks. Die harte Arbeit des Erinnerns, die ihre Tochter geleistet hat, geht über das Beschreiben des Gewesenen hinaus. Sie schafft einen geschlossenen Raum, in dem sich Innen und Außen begegnen.

Tango ohne Männer ist ein bemerkenswertes Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite