Eine Rezension von Hans-Rainer John


Faszinierende Szenen einer Ehe

Ian McEwan: Liebeswahn

Roman. Aus dem Englischen von Hans-Chistian Oeser.

Diogenes Verlag, Zürich 1998, 368 S.

 

McEwan, der 1948 geboren wurde und heute in Oxford und London lebt, ist hierzulande kein Unbekannter. Liebeswahn ist sein neunter Roman, der bei Diogenes erscheint, drei der Bücher wurden verfilmt, am bekanntesten wurde dadurch wohl „Zementgarten“ (Regie Andrew Birkin, Hauptrolle Charlotte Gainsbourg, 1993 ausgezeichnet mit dem „Silbernen Bären“).

Zu Liebeswahn wurde McEwan inspiriert durch einen Krankenbericht, erschienen in der „British Review of Psychiatry“, dem er in allen Einzelheiten folgt. Es ging dabei um eine homoerotische Obsession mit religiösen Untertönen - eine klinische Variante des Cléram-bault-Syndroms. P., ein 28jähriger Mann, ledig, Sprachlehrer, arbeitslos, vermögend, wurde vom Gericht auf Grund einer Anklage wegen versuchten Mordes in eine Anstalt eingewiesen. Was war geschehen? Grüblerisch und einsam religiösen Überzeugungen lebend, wurde P. auf einem seiner Spaziergänge in ein Unglück mit einem Heliumballon verwickelt. Er tauschte bei der Hilfsaktion einen Blick mit R., einem anderen Beteiligten, Wissenschaftsjournalist, Atheist, seit sieben Jahren glücklich in ehelicher Gemeinschaft lebend, und es kam P. vor, als habe sich R. in diesem Augenblick in ihn verliebt. Er verfolgte R. von Stund an mit dem Bekenntnis, daß er diese Liebe erwidere, und mit der Forderung, seine eheliche Bindung zu lösen und zu ihm zu ziehen. Dafür wolle er ihn wieder zu Gott führen, das sei sein Auftrag. Er rief täglich dreißigmal an, schrieb Brief auf Brief, stand stundenlang vor dem Haus, verfolgte R. auf allen Wegen. Als seine Liebe unerwidert blieb, heuerte er Berufskiller an, und es kam zu einem Mordanschlag. Als der fehlschlug, versuchte P., sich vor R. und dessen Lebensgefährtin Clarissa, die er zuvor stundenlang mit vorgehaltenem Messer fixiert hatte, zu entleiben.

Es war keineswegs das homoerotische Moment, des McEwan interessierte. R. war dafür nicht anfällig, und bei P. blieb das Liebesverlangen im Rahmen des geschlossenen Wahnsystems ganz unbestimmt und allgemein, gekoppelt sogar mit der Angst vor sexueller Intimität. Es war auch nicht die Krankengeschichte, die Anatomie einer Obsession, das Psychogramm eines sozial isolierten Individiums, bei dem religiös angehauchte Erotomanie als Abwehrmechanismus gegen Depression und Einsamkeit funktioniert. Den Autor interessierte viel mehr die Geschichte einer glücklichen und erfüllten Zweierbeziehung und ihrer Belastbarkeit angesichts eines plötzlich von außen hereinbrechenden Fatums. Er schildert deshalb auch alle Vorgänge aus der Sicht von R., fügt nur einige Male Briefe von P.und Clarissa ein, um auch der Gegenseite Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen und die Einseitigkeit zu durchbrechen.

Zunächst wird das Bild einer intensiven und leidenschaftlichen Liebe entworfen, dann zeichnet McEwan nach, wie sich Joe und Clarissa unter dem Eindruck des Psychopathen Jed Parry, seiner Nachstellungen und Belästigungen, seiner Übergriffe und Eingriffe, seines Grolls und seiner Eifersucht, allmählich verändern, wie sie sich entfremden und wie die Beziehung Risse bekommt, die vorher undenkbar waren. Joe reagiert auf die Bedrohung aggressiv und schockiert, panisch und unduldsam, er ahnt zugleich die immanente Gefahr, sucht vergeblich, Polizei und Geliebte aufzuschrecken, und fühlt sich schließlich von allen verraten und im Stich gelassen. Denn die Polizei findet keinen Ansatz zum Eingriff, und Clarissa hält Parry nur für einen jämmerlichen und harmlosen Spinner, sie rät zum versöhnenden Gespräch im trauten Heim, und sie findet, daß Joe zu manisch reagiert, unangemessen dramatisiert, wie von einer perversen Idee besessen. „Ein Fremder ist in unser Leben eingefallen“, schreibt sie in einen Brief, „und die erste Folge davon war, daß Du für mich zu einem Fremden geworden bist.“

Zugleich kommen alte Unzufriedenheiten hoch. Er, der als Journalist über Wissenschaft und Wissenschaftler schreibt, wäre viel lieber selbst in der wissenschaftlichen Praxis forschend tätig, und sie, die Literaturwissenschaftlerin, sehnt sich nach einem Kind, das ihr eines früheren Routineeingriffs wegen verwehrt ist. „Wir befanden uns zwar schwerlich im Kriegszustand, doch zwischen uns war alles abgestorben. Wir waren wie gelähmt. Das einzige, was sich bewegte, waren die stummen Vorwürfe, die sich über unseren Köpfen blähten wie Standarten.“

Clarissa zieht am Ende aus dem gemeinsamen Heim aus. Was bleibt, ist die begründete Hoffnung auf eine spätere Versöhnung, wie sie in dem authentischen Fall auch tatsächlich stattgefunden hat (einschließlich der Adoption eines Kindes, „zur allseitigen Zufriedenheit“, wie es in dem Protokoll heißt).

Es ist das sensibel, präzis und stimmig umrissene Porträt einer Ehe, das diesen sprachlich exzellent gefaßten Roman lesenswert, wichtig und wertvoll macht. In der ersten Hälfte gibt es retardierende Momente, die ungeduldige Leser als Abschweifungen kritisieren könnten, danach allerdings überschlagen sich die Ereignisse, und Rasanz und Spannung lassen nichts zu wünschen übrig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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