Eine Rezension von Karl Friedrich


Ein irritierend fröhlicher Erfinder des Phantastischen

Primo Levi: Das Maß der Schönheit
Erzählungen.

Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997, 149 S.

 

Der 1919 in Turin geborene Primo Levi studierte Chemie. Als Mitglied der Resistenza wurde er Ende 1943 von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet und im Februar 1944 nach Auschwitz deportiert. Im Oktober 1945 kehrte Levi nach Italien zurück und arbeitete neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit fast 30 Jahre lang als Chemiker. Das Trauma von Auschwitz, die Hölle des Jahrhunderts, hat ihn nie losgelassen, er hat ewig darunter gelitten. Er selbst schrieb: „Zwischen dem Lager und diesen Fiktionen gibt es eine Kontinuität, eine Verbindungsbrücke: Für mich war das Lager der schlimmste aller ,Fehler‘, aller Verzerrungen, das bedrohlichste der Ungeheuer, die der Schlaf der Vernunft gebiert.“ 1987 hat Primo Levi in Turin seinem Leben ein Ende gesetzt, die schleichende Schmach der Demütigungen nicht mehr ertragend.

In seiner Prosa steht kein einziges Wort über das Lager. Denn er erzählt, und seine Figuren, die mancherlei Seltsamkeiten durchs Leben treibt, ersinnen pausenlos Phantastisches. Situationen, in denen immer die krude Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen steckt. Als studierter Chemiker kannte sich der Erzähler Levi gut im Detail aus. Das wird schon in der ersten Erzählung, „Mnemagogien“ betitelt, ausgiebig ausgespielt. Ein junger Arzt betritt neugierig die Dorfpraxis eines älteren Kollegen. Der eine beginnt seine berufliche Laufbahn, der andere tritt ab von der Bühne. Zuvor hat der Senior-Kollege aber noch einen wunderlichen Auftritt. Montesanto hat keine Erfahrungen zu bieten, er zeigt seinem Nachfolger Ungewöhnliches. Er hat, unter Aufbietung all seiner pharmazeutischen Kenntnisse und Fähigkeiten, Erlebnisse aus seiner Kindheit als Gerüche in kleine Fläschchen gebracht. Orte, Zeiten, Personen - Illusionen für Hirn und Nase. Montesanto unterscheidet die Menschen in solche, die sich entweder nicht oder geradezu brennend für die Vergangenheit interessieren. Und die ist in der Erinnerung fast immer an Menschen und an ihre Gerüche gebunden. In „haltbarer Form“ hat er eine größere Anzahl von Empfindungen nachgeschaffen, die er Mnemagogien, Gedächtnisleiter, nennt. In einem Fläschchen ist es der Geruch von Volksschulklassen, der ihm in Verbindung mit einem Klassenfoto noch einmal die Stimmung jener Jahre verschafft. Die öden Stunden über dem Abc, die Gemütsverfassung in Erwartung des ersten Diktats, das kribbelnde Bauchweh von damals. Alles im Fläschchen. Auch das Aroma, wenn der Großvater das Obst ausbreitete, eine jugendliche Verehrerin ihre Düfte ausschickte, alles ist hier möglich. Riecht es nach Phenol, erscheint das Krankenhaus von damals, ein populäres Lied von einst, „mein jugendlicher Enthusiasmus für Blaise Pascal, eine gewisse Mattigkeit im Kreuz und in den Knien sowie eine Studienkollegin, die, wie ich hörte, vor kurzem Großmutter geworden ist“.

Früher ist Montesanto auch gern auf die Gipfel der Berge gestiegen. Da das nun seit langem nicht mehr geht, verschafft er sich das Gefühl eben in einer Geruchsempfindung, mittels kunstvoll ersonnener Substanz. Und er nimmt diesen leichten, eindringlich betäubenden Geruch wieder wahr, wie damals ganz oben auf den Bergen. Definiert ihn stolz als „den Geruch des erreichten Friedens“. Nein, so möchte Doktor Morandi nicht werden, noch nicht zumindest. Mit feiner Ironie läßt Levi am Schluß offen, ob es den Nachfolger doch just eines schönen Tages, wenn die Beine und das Gedächtnis nicht mehr mitmachen, auch zu den Fläschchen der ungestörten Erinnerung und zu all dem Erinnerungs-Hokuspokus treiben wird.

Erfinderschrullen sind es jedesmal, aber, der Mensch leistet sich Wissenschaft und Forschung, um es genau, ganz genau zu erfahren, was er nicht ganz für sich begreifen kann. Die Titelerzählung „Das Maß der Schönheit“ beschreibt die Erfindung eines Amerikaners, der voller Begeisterung in Italien einen neuen, sensationellen Schönheitsmesser propagiert. Das Gerät ist so raffiniert, daß jeder, der es benutzt, das Maß seiner ihm beliebigen Schönheit verändern kann. Der Erfinder weiß, wovon er redet: „Jeder hat es gern, wenn er gelobt wird und wenn er recht bekommt, und sei es nur von einem Spiegel oder einem gedruckten Relais.“

Primo Levi erfindet auch einen Psychofanten, der die hierzulande gut bekannte Vereinsmeierei auf italienisch inszeniert. Er setzt überallhin „Rote Lämpchen“ und geht ganz spielerisch mit den heiklen Problemen der Zensur um. Zensoren gesucht: eine Parole, die gelegentlich gilt. Doch Zensoren ermüden leicht, werden engstirnig und einsam. So kommt die Idee auf, dem überlasteten Zensor ein viel sichereres Wesen entgegenzuhalten. Und das ist in der Erzählung „Zensur in Bitinien“ das gemeine Haushuhn. Ihm kann nicht unterlaufen, was dem berühmten Militärkritiker, Admiral Tuttle, widerfuhr. In dessen Werk über die Seeschlacht im Schwarzen Meer war das Wort „Meerbusen“ durch einen „bedauerlichen Druckfehler als ,mehr Busen‘“ verändert worden. Und das hatte für den Betroffenen große Folgen. Große Folgen gibt es auch in der Erzählung „Knall“. Zunächst ist alles ganz einfach: „Ein Knall ist ein glattes Röhrchen, so lang und so dick wie eine toskanische Zigarre und auch kaum schwerer; er wird einzeln verkauft oder in Schachteln zu zwanzig Stück.“ Anwendbar ist das Ding vielerorts und vielerseits. Doch erinnert der Erzähler auch an etwas anderes: „Knall ist ein deutsches Wort, und ,abknallen‘ hatte im Jargon des Zweiten Weltkrieges die Bedeutung gewonnen von: ,jemanden mit einer Schußwaffe töten‘, während das Typische bei der Entladung eines Knalls doch gerade die Geräuschlosigkeit ist.“

Nicht alle Knalle, die hier vorgeführt oder vorgestellt werden, dienen gleich kriminellen Zwecken. Doch in bestimmten Kreisen „ist es zu einer unverzichtbaren Notwendigkeit geworden, einen Knall gut sichtbar bei sich zu führen, in der Brusttasche oder in den Gürtel gesteckt oder hinters Ohr geklemmt wie der Bleistift bei den Krämern“. Da Knalle ein Verfallsdatum haben, müssen sie über kurz oder lang losknallen. Doch da der Knall eine „Mode“ ist, wird sofort an seiner Entschärfung gearbeitet. Freilich bleibt die Neigung vieler Menschen, einer Torheit nicht nur bereitwillig zu folgen, sondern sie gierig Tag für Tag zu erwarten, also jederzeit darauf eingestellt zu sein, daß sich etwas ereignet, weil ja sonst nichts passiert. Nicht gar zu viel reden über den Knall in dieser Erzählung, das empfiehlt auch die Polizei, und es wird die Vermutung ausgesprochen, daß diese Auffassung vielleicht daher rühre, „daß die Polizei letztlich ohnmächtig ist“. Alles Folgen des Knalls, der Knall-Mode? In Primo Levis Erzählung geht es phantastisch und realistisch zugleich zu, und das betrifft hier die Folgen des tönenden Spektakels: „Auch das Verhalten der Menschen auf den Straßen hat sich verändert: viele Leute bleiben lieber zu Hause oder benutzen nicht die Bürgersteige, wodurch sie sich anderen Gefahren aussetzen oder jedenfalls den Verkehr behindern. Viele weichen, wenn sie sich in Fluren oder auf Fußgängerwegen begegnen, einander in großem Bogen aus, wie Magnetpole mit gleichem Vorzeichen.“

Wenn das kein Merk-Zeichen ist, dann war jeder Knall in diesem Buch umsonst.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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