Eine Rezension von Bernd Heimberger


Sitzen, Schauen, Sinnen

Reiner Kunze: ein tag auf dieser erde
Gedichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 112 S.

 

Nein, nein! So neu ist der neue Kunze nicht! Wie immer will der Dichter Reiner Kunze das einfache Wort. Wie immer will er die eindeutige Antwort. Wie immer ist er auf die Frage und die Antwort aus, die in jedem Wort-Sinn steckt. Das einfache Wort für die eindeutige Antwort findet er, wenn, dann „Abseits ... / von den wühltischen der sprache“. Das bedeutet für ihn, weiter die von ihm beschrittenen „sensiblen wege“ zu gehen. Das sind die Wege, die den Dichter dahin und dazu bringen, so schlichte Formulierungen wie „Die Brennessel sticht“ ins Poetische zu übersetzen. Aus der schlichten Formulierung wird bei Kunze das Sinn-Bild: „Die mannshohe nessel / brennt dir ein / daß du lebst.“ Das ist so persönlich wie allgemein gesagt und zudem allgemeinverständlich. Also einfach, eindeutig, einprägsam. Vielleicht ist das Neue in den Gedichten des Mittsechzigers - ein tag auf dieser erde-, daß er nie so entschieden, so direkt im Persönlichen wie Allgemeinen war und nie von solcher Allgemeinverständlichkeit.

Reiner Kunze setzt seine lyrische Linie fort, an deren Rand er immer wieder die erreichte Position des Poeten markiert. Er schreibt „... den dichter richtet / das gedicht“. „Das gedicht/ ist der blindenstock des dichters.“ „Wort ist währung / je wahrer / desto härter.“ Die Worte des Dichters auf den Dichter gemünzt, ist er sich sicherer denn je, daß er das richtende Urteil seiner Gedichte akzeptieren kann. Sicher, daß ihn der Blindenstock, daß er den Blindenstock gut führt. Sicher, daß seine Wortwährung derzeit zu den härtesten der deutschen Gegenwartssprache gehört.

Mit der Geduld des Anglers sitzt der Autor am Fluß des Lebens. Längst ist er nicht mehr auf jeden Fang versessen. Er kennt den Gewinn, der im Sitzen und Schauen und Sinnen ist. Er weiß um den Wert der Stille. Kunze holt Worte aus der Stille. Stille ist ein Wort, das Kunze liebt. An stillen Orten entdeckt sich der Dichter Kontinente, sieht er seine Horizonte. Oft machen zwei Gedichtzeilen den Gipfelpunkt eines Gedichts. Sentenzen stehen in Kunzes Gedichten nicht plötzlich wie unbezwingbare Felsmassive vor dem Leser. Der Lyriker lotst die Leser hinauf auf die Höhen. Angekommen, ist - fast immer - das Erstaunen groß, derart leichtfüßig derart hoch hinaufgekommen zu sein. Was nun wirklich nicht bedeutet, daß sich der Poet zum fröhlich pfeifenden Pfadführer entwickelte. Sich Kunzes Versen anzuvertrauen heißt auch weiterhin, einem Skeptiker zu vertrauen, der sich Sicherheit in und mit der Sprache gewinnt. Wenn Visionär, dann der, der nicht - oder verhalten!- auf das Prinzip Hoffnung baut. Der Lyriker glaubt, „daß der mond / das vorweggenommene antlitz ist / der erde“. Womit nicht angedeutet ist, daß destruktives Denken Kunzes Dichtung beherrscht und bestimmt. Selbst unverhohlene Wehmut, wahrhaftige Melancholie machen die Gedichte des auch heiteren Skeptikers nicht geringer. Wehmut, Melancholie, Skepsis sind Stärken des Dichters. In seiner Stärke zeigt sich Reiner Kunze so stark wie nie zuvor. Der Lyriker, so scheint das nicht nur, hat seinen inneren Frieden mit seiner inneren Natur gemacht. Mit seinem Leben, das Teil des Lebens der Natur ist. Eine Tatsache, die den Dichter feststellen läßt: „Wesen bist du unter wesen.“ Das ist es! Ist alles. Ist das Wesent-liche. Ist das Göttliche. Für Reiner Kunze. Der ermöglicht sich eine Annäherung an das Ewige, die Verbindung mit der Ewigkeit. „Wesen bist du unter wesen“, das ist die Wahrheit der Wahrheiten für den Dichter. Sich der Wahrheit zu beugen bedeutet nicht, sich in Demut zu beugen. Bedeutet Verbeugung in Dankbarkeit. Die fern ist von dumpfer, drückender, duckender Demütigung. Warum nicht aufrichtig einem Dichter wie Reiner Kunze dafür dankbar sein, daß seine Gedichte so dankbar machen? Für das Leben. Das Leben, das uns hat. Das wir haben. Das Leben, wie es ist. Einen Nachmittag und noch einen Nachmittag die neuen Gedichte des Reiner Kunze gelesen, wächst die Freude von Tag zu Tag. Die Freude an und mit der Familie. An und mit den Freunden. Am Sitzen im Garten und auf dem Balkon. Am Liegen im Bett. Soviel Freude ist selten. Alles ist von Wert. Alles hat seinen Wert. Alles hat einen Wert. Wie jeder Tag auf dieser Erde. Wie das Buch ein tag auf dieser erde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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