Eine Rezension von Roland Lampe


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Lili fiel aus allen Wolken

 

Norbert Klugmann/Peter Mathews: Land in Sicht

Rütten & Loening, Berlin 1999, 251 S.

 

 

Eine Familiengeschichte? Ein Liebesroman? Ein Wende-Roman? Ein Hiddensee-Roman? Ein Kriminalroman? Das alles und noch viel mehr. Ein guter Roman also? Oder wäre weniger (doch oder noch) mehr gewesen? Auf jeden Fall aber: ein turbulenter Roman.

Eine Familiengeschichte also. Lili Martin (klingt wie Lili Marleen), Anfang Zwanzig, ist Tänzerin („Dornröschen“) in Berlin, in West-Berlin. Die Ehe ihrer Eltern wurde frühzeitig geschieden, die Mutter lebt seit Jahren in Paris; der Vater, ein Seemann, ist ständig unterwegs. Eines Tages erhält sie die Nachricht, daß er in einem Hamburger Krankenhaus verstorben sei. Dort wird ihr ein Koffer ausgehändigt, darin ein Brief mit seiner letzten Bitte: Er möchte auf Hiddensee, wo er geboren worden ist, begraben werden. Außerdem eine Brosche, die Lili seiner Schwester, ihrer Tante Rosemarie, der Besitzerin der Pension „Weltfrieden“ in Kloster, übergeben soll. Wochen später wird ihr die Urne zugesandt. Sie bricht nach Hiddensee auf, zusätzlich „beflügelt“ durch Probleme mit ihrem Freund Raimond, der in Wendezeiten - wir schreiben die Jahre 1989/90 - nur das große Geldmachen im Sinn hat, und durch wachsenden Konkurrenzdruck an der Oper, an der sie tanzt. Eine Reise in ein fremdes Land, ins Ungewisse, eine Reise aber auch zu ihren Wurzeln.

Nun also ein Liebesroman. Raimond ist der eine Mann in Lilis Leben, der zweite wird Alexander. Der arbeitet als Kellner in der Pension „Weltfrieden“. Aber er ist natürlich kein Kellner, sondern ein Künstler und Lebenskünstler, der auf dem Eiland, auf dem eigene Gesetze herrschen, harte DDR-Zeiten überstanden hat. Und ein großer Freund der Frauen ist er natürlich auch. Ein Flirt zunächst, auf den Inselaufenthalt begrenzt. Aber nicht nur Lust und Sex spielen eine Rolle, sondern auch viele Gespräche - über unterschiedliche Lebenserfahrungen in den verschiedenen Teilen eines Landes, über Wünsche und Sehnsüchte, die sie haben. Als es Liebe werden könnte (und als es für Lili auf der Insel gefährlich zu werden beginnt), vergißt und verläßt Alexander sie, um in Leipzig die Vertretung einer Versicherung zu übernehmen und Geld zu scheffeln, denn nur über Geld definiert sich seine Zukunft.

Ein Wende-Roman also. Just an dem Abend, an dem Lili ihren ersten großen Erfolg als Solotänzerin an der Westberliner Oper feiert, wird die Mauer geöffnet, im November 1989 also. Berlin steht kopf und Lili mittendrin, in den Menschenmassen, in den Kneipen. Zunehmende Aktivitäten ihres Freundes und Geschäftemachers Raimond. Und plötzlich die Möglichkeit, die Asche ihres Vaters in dem Land jenseits der Mauer unter die Erde zu bringen.

Auch auf Hiddensee ist die Zeit inzwischen nicht stehengeblieben; die alten Strukturen gibt es zwar noch und auch die die Pension „Weltfrieden“ und ihre Stammgäste (wie die „Grolle“), aber die neuen Gäste mit den neuen Ansprüchen sind schon da (Schlotthau, die Wander-gruppe). Die sogenannten Vormunde von Partei und Sicherheit sind hingegen weg bzw. als solche nicht mehr zu erkennen. Ein Hiddensee-Roman also auch - über die Insel mit ihren Bewohnern (Matten, die Muhme, der Pastor), mit ihrer Geschichte, mit ihren Mythen und Sagen, nicht zuletzt mit ihrer Landschaft: der Steilküste, den Dörfern, dem Meer.

Und dann ein Kriminalroman, eine Grusel- oder Schauergeschichte fast. Unheimliche Dinge geschehen. Schwarze Hunde heulen in der Nacht, Glocken läuten zu einer Zeit, zu der sie noch nie geläutet haben. Brosche und Urne werden gestohlen. Wer ist dieser Matten, ist er wirklich nur der stumme Inseltrottel? Wo ist Tante Rosemarie? Jeder weicht Lilis Fragen aus. Schließlich die Entdeckung: Die Pension und ihre Gäste, die gesamte Insel wurden jahrelang systematisch überwacht, jeder Brief wurde kopiert, benutzte Teller und Betten wurden fotografiert, Textilproben gesammelt, alles abgehört und protokolliert.

Mit Lili kommt die Vergangenheit, kommt Unruhe auf die Insel. Dafür soll sie büßen. Sie gerät in die Fänge des Verrückten, des selbsternannten „Königs der Insel“, „Herr über Leben und Tod“, „Schwert und Schild der Partei“: Matten, der ihr Bruder ist, der Sohn ihres Vaters und dessen Schwester, ihrer Tante Rosemarie, deren Leiche er in einer Höhle versteckt hat. Lili muß stellvertretend büßen, Matten klagt an: „Zerstört habt ihr alles. Erst habt ihr euch vierzig Jahre nicht um uns gekümmert. Und jetzt kommt ihr mit eurem Geld und macht alles zum zweitenmal kaputt.“ Hiddensee, „das Dornröschen der Republik? Vergiß es. Das Märchen vom Dornröschen ist eine verdammte Lüge, und ich kann es beweisen.“ Matten zwingt Lili, zusammen mit der Urne des Vaters und der Leiche der Tante die letzte Reise anzutreten, in das „Land ohne Heimkehr“.

Soweit der Inhalt, aber das sind noch längst nicht alle Handlungsstränge, Verstrickungen und Verkettungen, und längst nicht alle Personen, die auftreten (so sind da u. a. noch Ul-rike und Ruth, die sich als gesuchte Top-Terroristinnen entpuppen, oder die „Grolle“, die den obersten Partei- und Staatsführern der Ehemaligen ähneln). Ein turbulenter Roman, wie gesagt, fast ein wenig zu turbulent.

Das hat seinen Preis, das geht zu Lasten der Überschaubarkeit, des Lesevergnügens. Man hat eigentlich nur damit zu tun, die Übersicht zu behalten und den Faden nicht zu verlieren, jedes Kapitel ist vollgestopft mit Personen, Informationen und Geschehen. Das geht auch zu Lasten der Charakterisierung der Personen, viele sind nur Karikaturen, Schemen, und ihr Sprachgestus unterscheidet sich kaum voneinander. Wenn es in die literarische, gestalterische Tiefe gehen soll, geraten die Autoren ins Ungefähre (anstatt ins Poetische, Kapitel 22) oder in den Klamauk (anstatt ins Komische, Kapitel 28). Oft stellt man sich beim Lesen auch die Frage, warum das Buch überhaupt geschrieben wurde, denn die Szenen wirken nicht selten konstruiert, inszeniert (z. B. das Sinfoniekonzert, Kapitel 34). Die Geschichte entwickelt sich nicht von innen heraus.

Zum Schluß, zum grandiosen Schluß allerdings, stellt man sich diese Frage nicht mehr, dann wird vieles deutlich, was vorher höchst rätselhaft war, dann erscheint so manches in einem anderen Licht. Die Frage ist nur: Ermüdet es den Leser, wenn er neun Zehntel des Buches im ungewissen belassen, wenn er mit den verschiedenen Geschichten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, allein gelassen wird, oder ist er bereit, (mit Lili) den Weg durchs Labyrinth zu gehen? Aber das muß jeder für sich selbst entscheiden. Man kann, wenn man das Ende kennt, natürlich mit dem Lesen noch einmal von vorn beginnen, dann hat man mehr davon, und das ist nicht ironisch gemeint.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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