Eine Rezension von Licita Geppert


Der Sozialismus und die Menschlichkeit

Igor Hergenröther: Gebt dem König die Hand

Roman.
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke.

Volk & Welt, Berlin 1998, 139 S.

 

„Das, was Sie jetzt lesen werden, habe ich, Igor Hergenröther, selbst erlebt. In einem der Helden bin ich leicht zu erkennen. Alles, was ich aufgeschrieben habe, ist wahr: Ich war dabei. So war es.“ Diese Zeilen stellt der 1952 in Buguruslan als Sohn von Rußlanddeutschen geborene Autor seinem Tatsachenroman voran, bevor er die erschütternde Geschichte eines sechsjährigen Jungen im „Königreich Polio“ eines Moskauer medizinischen Forschungsinstitutes zu erzählen beginnt.

Große Hoffnungen setzten die Eltern des kleinen Jungen, der den Spitznamen „Geige“ tragen sollte, in diesen Klinikaufenthalt: Sein krummer Rücken und seine verdorrten Beine, die grausamen Auswirkungen der Kinderlähmung, würden dort geheilt werden. Zwei Jahre hatten sie auf ein freies Bett warten müssen, das der Vater auch erst nach Intervention an höchster Stelle zugewiesen bekommen hatte. Um den Abschiedsschmerz zu umgehen, erfährt der kleine Junge erst nach dem heimlichen Weggang der Mutter, daß er in diesem Krankenhaus längere Zeit verbringen wird. Zeit ist ohnehin relativ für einen Sechsjährigen mit schweren Behinderungen und Schmerzen. Die Mutter ging einfach hinaus und ist verschwunden.

Während seines gesamten mehrmonatigen Aufenthaltes soll er sie nicht wiedersehen, und von dem Geld, das die Eltern monatlich zu seiner Versorgung schicken, wird er nicht eine Kopeke erhalten.

Mit dem Fortgang der Mutter schließt sich das Tor zur Welt und zum Leben, und der kleine Junge vegetiert von nun an in einer Art Vorhölle, in der es nicht den kleinsten Hauch von Freundlichkeit gibt. Die nur selten durchschimmernde Menschlichkeit verkommt zur Karikatur. Die Klinik wird zum Abbild der Gesellschaft: hier die Mächtigen, dort die Entrechteten. Charles Dickens oder Victor Hugo hätten das Leid der Kinder nicht eindrucksvoller schildern können als Hergenröther in seinem authentischen Bericht, der sorgsam die Balance wahrt zwischen den kindlichen Eindrücken eines Sechsjährigen und den für das Verständnis der Leser notwendigen Erläuterungen.

Dort, wo die Qual durch unsinnige, teilweise bewußt falsche Behandlungen noch nicht aufhört, setzt obendrein die alptraumhafte Erniedrigung durch Saschka den König ein, einen zwölfjährigen Jungen, der sich die übrigen kranken Kinder trotz seiner eigenen Behinderung untertan zu machen versteht.

Die Grausamkeit und Ignoranz von Erwachsenen und Kindern unterscheiden sich nur graduell. Während jedoch der Zynismus der Ärzte durch nichts zu überbieten ist, mutet es erstaunlich an, wie Saschka der König seine selbstgewählte „Funktion“ als Herrscher insoweit ernst nimmt, als er für seine „Untertanen“ sorgt und deren Eltern freiwillig Briefe schreibt, von seinem (geklauten) Geld frankiert und deren Weiterleitung organisiert, nachdem ihm bekannt geworden war, daß sämtliche Jungen unter einem Vorwand nach Tscheljabinsk verfrachtet und dort Opfer von Versuchsreihen der biologischen Kriegsführung werden sollten.

Für „Geige“ endet durch diesen Brief das sinnlose Martyrium, denn seine Mutter holt ihn umgehend nach Hause. Von den anderen Kindern der Station, die nach Tscheljabinsk gebracht worden waren, hat eines überlebt, das der Autor 1964 in einem Sanatorium wiedertraf.

Seit 1994 lebt Igor Hergenröther als Autor und Journalist mit seiner Familie in Berlin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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