Eine Rezension von Grace Maier


Abgründe einer deformierten Seele

Doris Gercke: Der Tod ist in der Stadt

Roman.

Hoffmann und Campe, Hamburg 1998, 272 S.

 

Gefragt, ob sie eine Sprache für Sinnlichkeit und Sex gefunden habe oder ob es ihr dafür an den richtigen Worten gebricht, erklärte Doris Gercke, die für die originelle literarische Existenz der zwar nicht mehr ganz jungen, den Sinnesfreuden des Lebens aber noch allemal sehr lust- und genußvoll zugewandten Hamburger Kommissarin Bella Block verantwortlich zeichnet, sie schriebe nicht über Sex. Sie schriebe, wenn es nötig sei, über mehr oder weniger pervertierte sexuelle Bedürfnisse von Menschen, wofür sie bisher noch immer eine Sprache gefunden habe.

Mit ihrem jüngsten Roman, einer Mischung aus raffiniert gesponnener Psycho- und kritischer Sozialstory mit beachtlichem Gänsehautpotential, tritt sie ein weiteres Mal den Beweis dafür an. Er erzählt von einem scheinbar harmlosen Junggesellen, der, wie er seinem Tagebuch anvertraut, zu jener Spezies Mann gehört, die Befriedigung nur hat, wenn sie Gewalt ausübt. Dieser Typ, der seiner illusionslosen Selbstcharakterisierung nach zu dick, zu häßlich, zu freundlich, zu undurchschaubar, zu zurückhaltend ist, um seinen Mitmenschen angenehm zu sein (und zu allem Übel - überflüssigerweise - eine Vorliebe für die Farbe Rosa hat), wechselt häufig die Wohnung, was an und für sich ja nicht strafbar ist. In diesem Fall hat die Umtriebigkeit allerdings einen haarsträubenden Grund: Es genügt ihm nicht, das jeweilige Objekt seiner krankhaften Begierde in womöglich sadomasochistischer Manier zu quälen, er tötet es. Mal akribisch geplant, mal ganz spontan, zwanghaft, erbarmungslos und schockierend unaufgeregt. Sein Weg ist von Leichen gesäumt, denn die letzte Tat kann nie so befriedigend sein wie die nächste. Also muß er flexibel sein.

Wer Doris Gerckes Romane kennt, weiß, daß ihre Täter immer auch Opfer sind, wobei sie für diesen hier wenig Mitleid hat. Nicht unähnlich dem scheinbar sanften Norman Bates in dem Hitchcock-Schocker „Psycho“, handelt der namenlose psychotische Protagonist mit dem Biedermann-Face in Der Tod ist in der Stadt unter dem allgegenwärtigen Zwang einer qualvollen, unbewältigten Familiengeschichte. Auf den Erinnerungen an seine Kindheit liegt der Fluch einer unglücklichen Mutter-Sohn-Beziehung, die eine gestörte Sexualität auslöst. Eine solche freudianisch beeinflußte literarische Tatgenese wirkt längst nicht mehr originell. Aber bekanntlich schreibt das Leben ja nicht nur die spannendsten Geschichten, sondern auch die trivialsten, so daß Gercke sich nicht zuletzt ob der voyeuristischen Veröffentlichung adäquater True-Crime-Fälle zumindest darauf verlassen kann, daß ihr Psychogramm eines Triebtäters als im großen und ganzen glaubwürdig angenommen wird. Daß eine schüchterne, biedere junge Frau, die der Wolf im Schafspelz aus einer Laune heraus statt zu töten, unvermittelt ins Vertrauen zieht, sich wie selbstverständlich und verblüffend furchtlos darauf einläßt, sein mörderisches „Vergnügen“ zu decken, ist hingegen eine ziemlich starke Herausforderung für das Einfühlungsvermögen des Lesers, auch wenn man in Rechnung stellt, daß Einsamkeit ein hinreichendes Motiv für absurdes menschliches Verhalten ist.

Der fast emotionslose, stellenweise etwas verhangene Blick hinter die Fassade scheinbarer Normalität in die Abgründe einer deformierten Seele via Tagebuch des Triebtäters ist nur eine von drei Erzählsichten des Romans, die, schnörkellos und versiert miteinander verflochten, sich peu à peu zu einer Atmosphäre des Schreckens verdichten, ohne daß Ströme von Blut durch die Geschichte wallen. Auch diesem abartigen, fraglos intelligenten und äußerst umsichtigen Täter bleibt die Erfahrung nicht erspart, daß es das perfekte Verbrechen nicht gibt. Gegen neugierige Nachbarn, einen Psychologen und seine ehrgeizige Freundin, die ihn mißtrauisch belauern und auf seine Kosten Karriere machen wollen, ist kein Kraut gewachsen. Oder doch? Und dann steht eines Tages auch noch die Polizei auf der Matte: „Es waren zwei, wie üblich bei solchen Anlässen. Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht zu lachen und um sie meine Überlegenheit nicht spüren zu lassen. Schade, daß ich kein Schriftsteller bin, was für brauchbare Vorlagen für zwei dumme, kaputte, schlechtbezahlte, mißgünstige Kreaturen wären sie gewesen ... Ihre miesen kleinen Verhältnisse, ihre sinnlose Arbeit, die schlechte Bezahlung, die ewigen Sorgen und die Ansprüche der Familie ..., all das hatte diese Männer in Schatten ihrer selbst verwandelt.“

So anmaßend und überheblich das auch klingen mag, der „rosa Riese“ ist ein guter Beobachter, und so entgeht ihm nicht, daß zumindest eine der beiden „jämmerlichen Gestalten“ trotz allem ein gefährlicher Gegner ist: Kommissar Brunner. Brunner ist es auch, der diesen Psychokrimi vor Beliebigkeit bewahrt, indem Gercke insbesondere ihn, den Vertreter des Gesetzes, ins Licht gesellschaftlicher und persönlicher Widersprüche rückt und uns vermittels der Gestaltung seines sozialen Umfelds und tristen Alltagslebens, das ihn unausweichlich mit Arbeits- und Obdachlosigkeit, Vereinsamung und Drogenabhängigkeit konfrontiert, den Spiegel der Gesellschaft vorhält. Wie seine Kollegin Bella Block ist auch Brunner — mit Gewinn an Glaubwürdigkeit - keine eindeutige moralische Instanz, sondern ein höchst widersprüchlicher, von einem wechselvollen Leben und Alkoholsucht gezeichneter Mensch aus Fleisch und Blut. Und er ist fraglos ein guter Polizist mit einer bemerkenswert sensiblen Spürnase: „Ich habe mir die Wohnung von dem Kerl genau angesehen. Aus irgendeinem Grund paßt der nicht in das Haus.“ Brunners Ermittlungen entwickeln sich zu einem Rennen gegen die nicht unbegrenzt zur Verfügung stehende Zeit, denn sonst „wird man ihnen (wieder) eine Leiche präsentieren oder es wird jemand verschwinden und als vermißt gemeldet werden“.

Die Polarität zwischen Jäger und Gejagtem, will sagen zwischen Täter und Polizei, eine bewährte Spannungskonstellation in zahllosen Krimis, gewinnt in diesem eine besondere Qualität, als sich abzeichnet, daß Brunner persönlich von dem Fall betroffen ist. Plötzlich ist der Polizist nicht nur Jäger, sondern auch Wild. Es beginnt ein nahezu lautloser, spannungsintensiver Kampf, der dem Leser den Atem nimmt.

Der vollkommene Kriminalroman könne nicht geschrieben werden, meinte Raymond Chandler, und auch Doris Gercke vermochte es nicht, ihn mit diesem Psychothriller zu widerlegen. Bewundernswert ihre Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse ebenso realistisch wie kunstvoll verdichtet in Szene zu setzen, Situationen ein hohes Maß innerer Spannung und literarischen Gesetzeshütern ein vielschichtiges menschliches Profil zu verleihen. Bei der Gestaltung des Täterpsychogramms aber läßt sich eine gewisse Neigung zum Klischee beim besten Willen nicht übersehen. Die spannende Unterhaltung trübt das allerdings wenig. Als Gute-Nacht-Geschichte jedenfalls ist Der Tod ist in der Stadt nicht unbedingt zu empfehlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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