Eine Rezension von Hans-Rainer John


Homer, in moderner Prosa nacherzählt

Luciano De Crescenzo: Der Listenreiche
Die Odyssee, neu erzählt für den Leser von heute.

Aus dem Italienischen von Bruno Genzler.

Albrecht Knaus Verlag, München 1998, 286 S.

 

Luciano De Crescenzo, genannt „Der lachende Philosoph aus Neapel“, einer der erfolgreichsten italienischen Autoren der Gegenwart, hat wieder zugeschlagen. Mit seinen amüsanten Neubearbeitungen klassischer Stoffe wurde er zum Bestsellerautoren - diesmal hat er sich Homers Odyssee zugewandt. Er erzählt sie neu für Leser von heute - natürlich in moderner Prosa, aber respektvoll, vergnüglich, geistreich ergänzt mit Kommentaren und Überlegungen, um den Weg zur produktiven Rezeption für wenig vorbelastete Zeitgenossen zu ebnen.

„Ich möchte die Menschen von heute gern wieder für die antiken Erzählungen begeistern, denn diese sind erstens äußerst unterhaltsam - jede Soap-opera ist dagegen ein müder Abklatsch - und zweitens auch noch sehr lehrreich,“ bekannte er in einem Interview. Und warum Odysseus? „Das ist im Grunde ein moderner Held. Heute würde er sicher einen guten Politiker oder Industriemanager abgeben.“ Figuren wie Ajax oder Achill seien bloße Rambos gewesen, einfältige Totschläger, aber Odysseus sozusagen „ein moderner Mensch voller Widersprüche: intelligent, listig und verschlagen bis zur Heimtücke. Um sein Königreich zurückzugewinnen, verließ er sich nicht auf seine Muskeln, sondern auf seine grauen Zellen.“

Und so erzählt De Crescenzo mit modernem Vokabular und im geistreichen Plauderton, was oder wer sich wie Odysseus bei der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg in das heimatliche Ithaka in den Weg stellte und eine fast zwanzigjährige Irrfahrt auslöste: der ungnädige Gott Poseidon, die Damen Kirke, Kalypso und Nausika, die Sirenen, die Ungeheuer Skylla und Charybdis, der Kyklop Polyphem. Sogar dem Hades mußte Odysseus einen Besuch abstatten, ehe er Ithaka wiedersehen, seine Frau Penelope und seinen Sohn Telemachos in die Arme schließen, die 108 Freier, die sein Haus seit vier Jahren belagerten, töten und seinen Thron wieder in Besitz nehmen konnte.

Seine Erzählung würzt der Autor mit vielen vermittelnden Hinweisen. Für eine Schiffsreise habe man dazumal wohl den Abfahrtstag, nicht aber Ankunftstag und -ort festlegen können - letzteres sei weitgehend noch eine Frage der Winde und Unwetter gewesen. Kam fremdes Land in Sicht, seien nur zwei Verfahrensweisen üblich gewesen: mit Lächeln und Verbeugungen Gastgeschenke darzureichen oder mit der Waffe in der Hand Tod und Zerstörung zu bringen. Die Entscheidung sei eine Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Besuchern und Einheimischen gewesen nach der Devise: „Zeige dich stark bei den Schwachen und freundlich bei den Starken.“

Auch mit der Annahme, Nestor sei ein uralter Mann gewesen, wird aufgeräumt. Er galt lediglich als weise, weil er zu den wenigen Menschen gehörte, die die Fünfzig überschritten hatten. Fünfzig Jahre alt zu werden sei damals ein beinahe aussichtsloses Unterfangen gewesen. Krieg und Krankheit hätten die meisten schon dahingerafft, bevor die das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten. Um die Gefahr deutlich zu machen, die von den Sirenen ausging, werden natürlich Claudia Schiffer, Naomi Campbell, Cindy Crawford und Sharon Stone bemüht, und bezüglich Kirke warnt der Autor, ihren Trick, Odysseus Gefährten in Schweine zu verwandeln und in Ställe zu sperren, wörtlich zu nehmen. Es heiße doch nichts anderes, als daß die ausgehungerten Seeleute in die Kammern der Mägde geschleust worden seien, und wahrscheinlich sei Kirkes Heim überhaupt ein Freudenhaus gewesen. Auch schreckte er nicht davor zurück, die einzelnen Damen zeitgenössischen Erfahrungen gemäß zu charakterisieren: „Kirke war, sagen wir es ganz offen, eine richtige Nymphomanin. Aber sie war nicht unersättlich. Hatte Odysseus ihr Begehren einmal gestillt, ließ sie ihn in Ruhe. Nicht so Kalypso. Sie verfolgte ihn mit ihren Gefühlen, wollte lieben und geliebt werden in jedem Augenblick, vierundzwanzig Stunden am Tag. Und so fragte sie ihn unablässig: ,Liebst du mich? Ich liebe dich so sehr. Wie sehr liebst du mich?‘“

Auch seine persönlichen Erfahrungen setzt der Autor ins Verhältnis zur Dichtung. „Als ich das Gymnasium besuchte (ich spreche von den vierziger Jahren), waren die Verse 127-138 der Zensur zum Opfer gefallen. Da standen zwölf Auslassungspunkte.“ Natürlich zitiert De Crescenzo diese Verse - es handelt sich um die Begegnung von Odysseus und Nausika - nun vollständig (wie übrigens auch manche andere Stellen, damit ein Gefühl für die ursprüngliche Dichtung, ihre Metrik und Versgestalt vermittelnd). Auch Ovid, Euripides und Dante werden zum Vergleich herangezogen, soweit sie abweichende Aussagen machen. - An einigen Stellen der Odyssee unternimmt es Athene, den Helden etwas größer und jünger zu gestalten und in kostbare Kleider zu hüllen. Wie oft habe er sich solche Unterstützung in seinem Leben gewünscht, bekennt der Autor da, als er einer Mitschülerin den Kopf verdrehen wollte, vor dem ersten Vorstellungsgespräch und als er sein Manuskript beim Verlag anbot, aber leider habe er es bei Tönungscreme und Schuhen mit hohen Absätzen belassen müssen. Das sind nur Beispiele für die Art, wie sich De Crescenzo selbst ins Spiel bringt.

Er beläßt es auch nicht bei dem Homerischen Finale. Er fügt ein Kapitel hinzu. „Ich bin ja so glücklich,“ murmelt da unser Held, aber es fällt ihm schwer, die Hände in den Schoß zu legen und nur noch seine Gemahlin anzuhimmeln. Er geht zum Hafen, erblickt ein Schiff, überlegt, ob seine wahre Heimat vielleicht gar nicht Ithaka, sondern das Meer ist, und ruft dann den Matrosen zu: „Auf, Männer, legen wir ab.“ Denn für unseren Autor ist Odysseus ein Besessener, unerschrocken, neugierig, abenteuerlustig - besessen von einer Sucht, die den Menschen dazu treibt, immer wieder aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen. Ist das nicht eine kongeniale Charakterdeutung?

Aber De Crescenzo ist weit davon entfernt zu idealisieren. Er übersieht nicht, daß Odysseus auch hinterlistig und verlogen ist, ein Schwindler, Verräter, Mörder und Aufschneider. In der Odyssee freilich ist der Held vor allem Opfer, das sich sein Leben angesichts immer neuer Katastrophen sichern und ständig die Heimkehr zu Frau und Kind erkämpfen muß. Deshalb faßt er in einem Nachwort alle Geschichten zusammen, die sonst noch über Odysseus überliefert sind und die nehmen wahrlich nicht für ihn ein. Aber solche Enttäuschungen erleben wir ja auch mit modernen Politikern und Industriemanagern - das Charakterbild jedenfalls wird dialektisch vervollständigt.

Natürlich wird es immer wieder Leser zu den Homerischen Versen ziehen (hoffentlich!), und denen bleibt es unbenommen, zur Übersetzung von J. H. Voß (1781) oder W. Schadewald (1958) zu greifen. Aber zweifellos wird es eine viel größere Gemeinde sein, die durch De Crescenzo die Chance erhält, sich leicht und unterhaltsam Zugang zu einer bedeutsamen Dichtung zu verschaffen. Es ist kein minderwertiges Surrogat, dessen man sich schämen müßte, sondern ein intelligentes, geistreiches Buch von eigenem Wert, das den Bogen von der Vorzeit zur Gegenwart schlägt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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