Eine Rezension von Bertram G. Bock


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Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern kann
Eine Anleitung.

Aus dem Englischen von Thomas Mohr.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 235 S.

 

Im Herbst 1998 „erschütterte“ sozusagen ganz Frankreich die Veröffentlichung eines Comics. Der „Figaro“ machte seiner Empörung Luft und kommentierte: „Marcel ermordet!“ Denn es hatte sich ein Verlag erlaubt, das Romanepos Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) von Marcel Proust (1871-1922) als Comic in zwölf Bänden herauszubringen. Die konservative Kritik schäumte über den ersten Band Combray. Das ginge doch nicht an, Marcel als „unförmigen Jungen“ mit „dummen Knopfaugen“ darzustellen, der mit seinem „Cockerspanielblick“ auf den Frühstückstisch blickt und „Sieh mal an, eine Madleine“ ausruft. Auch Madame de Guermantes als „furchtbares rosa Ding mit Feder auf dem Kopf“ könne doch so nicht zugelassen werden, immerhin sei sie die schönste Frau der französischen Literatur. Man mag darüber denken, was man will, und versuche sich spaßeshalber vorzustellen, was passieren würde, wenn Goethes Faust als Comic vorläge (aller Wahrscheinlichkeit nach nichts, denn es würde a) nicht bemerkt und daher b) gar nicht gekauft werden). Interessant ist, daß selbst das deutsche Feuilleton diesen französischen Aufruhr für berichtenswert hielt. Interessant, daß es einen ebensolchen Aufruhr für das Buch von Alain de Botton bisher nicht gegeben hat - er wäre diesmal gerechtfertigt.

Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen. Dem jungen Alain de Botton kann man sicherlich nicht vorwerfen, Proust nur zur Hälfte gelesen oder sich nicht ausführlich mit dessen Leben und Werk beschäftigt zu haben. Kenntnisse der Materie, auch z. T. der Sekundärliteratur, sind fraglos vorhanden, Botton war ohne Zweifel fleißig - und damit dürfte sich das Positive des Buches erschöpft haben. Denn was er aus seinen Kenntnissen, aus Prousts Leben und Werk gemacht hat, kommt zwar keinem Mord, s. o., gleich, aber an eine (Anleitung zu einer) Vergewaltigung läßt das schon fatal erinnern.

Sozusagen leicht größenwahnsinnig bzw. zumindest überheblich ist es für einen Autor schon, Kapitelüberschriften zu gebrauchen, die alle mit „Wie man ...“ beginnen und Verheißungen suggerieren, die vielleicht Sekten zukommen: „Wie man das Leben heute liebt“ ist eine dieser Übertreibungen, gefolgt von „Wie man erfolgreich leidet“ oder „Wie man in der Liebe glücklich wird“. Das sind wahrlich schon Heilsbotschaften von unerhörtem Rang, die auch Plattheiten nicht entbehren: „Wie man ein Buch aus der Hand legt“. Wenn es denn ironisch wäre, könnte man es ja gelten lassen - aber es ist nicht ironisch gemeint, Alain de Botton meint das so, wie es da steht.

Sind die Kapitelüberschriften schon mißglückt, so sind die Inhalte der Kapitel nun auch nicht gerade das, was man mit „gut“ bezeichnen könnte. Zwar sind die einzelnen Aussagen für sich genommen nicht falsch, aber in der Zusammenstellung ergeben sie ein verfälschendes, teilweise auch völlig belangloses Bild. Es ist nicht begreiflich, warum man Marcel Proust auch heute noch seine langen Sätze vorwirft. Sie sind wahrlich nicht kurz - aber sind sie deswegen schlecht, oder nicht gut oder nicht lesbar? De Botton sammelt unter der Überschrift „Wie man sich Zeit nimmt“ das übliche Gejammere über Prousts Sätze, fügt die eine oder andere (gut erfundene?) Anekdote ein, um dann darauf aufmerksam zu machen, daß es nicht einfach ist, Prousts Hauptwerk in 15 Sekunden zusammenzufassen. Aber: Wer will das denn schon? Es folgt das bekannte Schwadronieren darüber, daß man aus einer Zeitungsmeldung auch einen Roman machen kann, was vor allem durch die logische Gegenprobe, aus einem Roman eine Zeitungsmeldung zu machen, vom Autor noch angeblich verstärkt wird. Allein diese Anmerkung hätte er sich einfach sparen können. Dazwischen Prousts Frühstücksgewohnheit, seine Leidenschaft für Fahrpläne, sein Aussehen und etwas aus dem Roman. Ein - höflich ausgedrückt - thematisch leicht verbundenes Sammelsurium, welches in dem Satz gipfelt: „Was lernen wir daraus?“ Und dann hebt de Botton - im hohen Tone sozusagen - an, der verwunderten und vertrauensseligen Leserschaft mitzuteilen, sie habe sich „an die Praxis zu halten, die Zeitung so zu lesen, als sei sie lediglich die Spitze eines komischen oder tragischen Romaneisberges ...“ Womit man bei der Ärgerlichkeit Nummer eins dieses Bandes ist.

Mal abgesehen davon, ob es überhaupt jemandem ansteht, sich als Moralapostel aufzuschwingen, ist es in diesem Fall schlichtweg peinlich, Plattheiten als lebenspraktischen Hinweis bzw. als moralisches Muß hingestellt zu bekommen, so, als sei man nicht in der Lage, selbst auch nur die geringste Entscheidung zu fällen bzw. ein Urteil zu begründen. De Botton besitzt den (zweifelhaften) Mut, die Leserschaft moralisch an die Hand nehmen zu wollen, was, wäre dieses Buch eine Erbauungsschrift, noch durchgehen würde. Aber hier geht es um Proust, um seine „Recherche“ - und da haben moralische Urteile bzw. Lebensplattheiten nichts zu suchen. De Botton mißbraucht Proust für seine persönliche Lebensanschauung und Moralvorstellung. Da freut es einen direkt, daß de Botton um die Tatsache nicht umhin kann, daß Proust homosexuell war. Und es ist peinlich mit anzusehen, wie der Autor versucht, diese Tatsache zu umgehen, das Wort „homosexuell“ oder „schwul“ erst gar nicht in die Feder bekommt, es zu umschreiben versucht und sichtbar froh ist, wenn er an dieser Klippe vorbei ist.

Neben dieser unerträglichen Besserwisserei am Ende eines jeden Kapitels bleibt weiter negativ anzumerken, daß zwar akribisch und zitatenreich gearbeitet worden ist, der Autor es aber nicht für nötig hält, in irgendeiner Weise die Zitate kenntlich zu machen. Nachprüfbar sind sie also nur unter erschwerten Bedingungen. Und wenn löblicherweise auch Zitate aus „bislang nicht vorliegenden Briefen“ ins Deutsche übersetzt worden sind - so wird dieses Lob sofort geschmälert, weil man als interessierter Laie, der die nicht kleine Korrespondenz Prousts so nicht einfach mal im Kopf hat, kaum feststellen kann, um welche es sich da handelt. Aber das paßt auch zum Anekdoten- und Klatschcharakter vieler Seiten, die nichts Besseres zu tun haben, als über das Husten, seine empfindliche Haut und seine Unterhosen zu berichten, womit der Aufbau der Kapitel gut umschrieben ist: Mal hier etwas, mal da etwas - assoziativ paßt es dann schon irgendwie zusammen.

Aber bei einem muß man de Botton nun doch recht geben, wenn er schreibt: „Bei einem Buch hingegen dürfen wir ehrlich sein. Wir können nach Lust und Laune darin blättern und ein gelangweiltes Gesicht machen oder eine Dialogpassage überspringen, wenn uns danach ist.“ Er wird von Proust bestärkt, der ähnlich schrieb: „wenn er (Molière) uns langweilt, haben wir keine Bedenken, ein gelangweiltes Gesicht zu machen, und wenn wir von seiner Gesellschaft genug haben, stellen wir ihn so brüsk an seinen Platz zurück ...“ Und das ist es, was man einzig mit de Bottons Buch machen kann: Sofort an seinen Platz in der Buchhandlung zurückstellen und ein anderes wählen - zum Beispiel irgendeinen Band von Proust.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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