Eine Rezension von Ursula Reinhold


Zwischenberichte

Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 180 S.

 

Der vorliegende Sammelband mit unterschiedlichen Texten umfaßt Äußerungen Brauns aus der unmittelbaren Wendezeit, den Jahren der Wiedereinführung des Kapitalismus in den ostdeutschen Ländern, bis zur Gegenwart des Jahres 1998. Die Texte sind zum großen Teil schon in anderen Zusammenhängen, z. T. selbständig, in Zeitungen und Zeitschriften und in anderen Zusammenstellungen erschienen. Ihre Zusammenfassung in einem eigenständigen Textband ist aber dennoch gerechtfertigt, weil sie erst in ihrer chronologischen Übersichtlichkeit die gedanklichen Konzentrationspunkte erkennbar machen, von denen Brauns Äußerungen bestimmt sind. Sie lassen sein anhaltendes Bemühen erkennen, sich gedanklich an den Realitäten der veränderten und veränderlichen Wirklichkeit zu reiben, nicht vorschnell vor ihrer verwirrenden Komplexität und Widersprüchlichkeit zu kapitulieren. Er behält seinen dichterischen Impuls bei, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen und aus der Auseinandersetzung mit den bekannten und neuen Zumutungen des geschichtlichen Prozesses die Funken für seine poetischen und prosaischen Arbeiten zu gewinnen. „Mein Luftkoffer, mein politisches Gepäck enthält Erinnerungen und Erwartungen, unkontrolliert und subversiv, schwer zu tragen, aber die Schritte treibend.“ (S. 83) Das Besondere seiner für verschiedene Zwecke verfaßten Texte ist das Bemühen um pointierte Formulierung, die Fähigkeit, komplexe Vorgänge mit sprachlich differenzierten Mitteln abzubilden, Paradoxien als Widerschein wirklicher Widersprüche aufscheinen und sie im assoziativen Bildreichtum erkennbar zu machen oder mit gedanklicher Schärfe auf den vorläufigen Begriff zu bringen. Die eigenwilligen Texte markieren die Stufen eines rasant verlaufenden Entwicklungsprozesses von der Auflösung der DDR bis zur Etablierung restaurierter Verhältnisse, und zugleich sind sie ein Spiegel der Befindlichkeiten des Dichters. Sie dokumentieren die Hoffnungen, Erwartungen in ein demokratisch erneuertes sozialistisches Staatswesen und spiegeln den Zerfall dieser Illusion. Sie machen den Widerspruch erkennbar zwischen den Vorstellungen von Intellektuellen und dem Volk, das naheliegenden Interessen und Ansprüchen folgt. Von diesbezüglichen Erwartungen legen vor allem die Texte Zeugnis ab, die zwischen Oktober 1989 und Oktober 1991 entstanden sind. Der „Prolog zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles“, der auch als Flugblatt des Brechtzentrums Berlin gedruckt wurde, ist dabei einer der wesentlichen Texte des revolutionären Herbstes 㥡, in dem noch vieles zur Erneuerung eines sozialistischen Gesellschaftsmodells möglich schien. Auch die „Notizen eines Publizisten“ vom 8. Dezember 1989, sie wurden für eine Diskussion im Friedrichstadtpalast niedergelegt, die sich als theoretische Fortsetzung der Massendemonstrationen verstand, haben diesen Charakter. In später verfaßten Texten notiert Braun seine Befürchtungen anläßlich eines rasant verlaufenden Umbruchs, setzt sich mit den eigenen Erwartungen auseinander. Dabei sucht er, dem Widerspruch zwischen eigenem Denken und den Vorstellungen der Massen auf die Spur zu kommen. Im Lichte genaueren Wissens analysiert Braun rückblickend das Verhältnis zwischen kritischem Bewußtsein und den Machtstrukturen bzw. der Machtausübung in der DDR und arbeitet sich an den eigenen Illusionen und Visionen ab, nutzt den Vorgang der Desillusionierung zu neuem Erkenntnisgewinn. Interessant die Darlegungen zum Realgeschehen, das den Anstoß für die Unvollendete Geschichte bildete. Braun rekonstruiert die Entstehungsgeschichte und hinterfragt seine damaligen Wirkungsintentionen kritisch. Für die Gedankenarbeit um den eigenen Standort bezieht er Beispiele aus der Geschichte ein, setzt sich, anläßlich der Verleihung des Schiller-Preises, mit Einsichten und historischen Determinationen von Schillers Werk auseinander. Auch Gedanken und Erfahrungen von Trotzki, Dostojewski und Shakespeare bezieht er, je nach dem Anlaß, in seine Betrachtungen über den unberechenbaren, rohen Geschichtsprozeß, über Freiheit und Vernunft, über den einzelnen und seine Begrenzungen ein und verleiht seinen Ansichten zur aktuellen geschichtlichen Situation damit historische Tiefenschärfe. In dem Erstdruck von Die Räumung oder: Das philosophische Ereignis stellt Braun das Weltverständnis und Aufklärerethos Diderots in Beziehung zur Analyse neuer geistiger Unverbindlichkeit in der Gegenwart, gegenüber der er am Gedanken der Veränderbarkeit der Welt und des Menschen festhält. „Sie wird es erleben, das philosophische Ereignis, die Polizei, wenn die Völker zu denken wagen. Wir aber, Philosoph, gehen auf das Feld der Niederlage, wo unser Brot wächst.“ (S. 163)

Von den Dichtern der Gegenwart waren und sind es Bertolt Brecht, Stefan Hermlin, Heiner Müller und Peter Weiss, deren geistige Nähe Braun hier in Respekt und Kritik offenbart. Auch Günter Grass genießt mit seinem kritischen Blick auf die Vereinigungsvorgänge seine ungeteilte Sympathie. Aber er sucht auch Verständnis für Dichter der folgenden Generationen, z. B. für Gerd Papenfuß’ Lyrikproduktion, nicht zuletzt um aus dessen kritischer Spracharbeit Impulse für das eigene Welt- und Dichtungsverständnis zu gewinnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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