Wiedergelesen von Ursula Reinhold


Alfred Andersch: Winterspelt

Diogenes Verlag, Zürich 1974

 

Alfred Anderschs (1914-1980) umfangreiches publizistisches und erzählerisches Werk war vom Gedanken inspiriert, an einer Welt des Friedens mitzuarbeiten. Er wäre in diesem Jahr 85 Jahre alt geworden, gehörte der Generation an, die durch die Niederlage der Weimarer Republik, durch 12 Jahre Faschismus und Krieg ihre Lebensprägung erfuhren und aus diesen Grunderlebnissen heraus entschiedene Gegner aller Bestrebungen zu Aufrüstung und Wiederbewaffnung in der Nachkriegszeit waren. Hellwach reagierte er auch auf Einschränkung von Demokratie durch Notstandsgesetze und Berufsverbote, suchte mit literarischen und publizistischen Mitteln eine aufklärerische Gegenöffentlichkeit gegenüber der vernebelnden Meinungsindustrie zu organisieren. Das begann schon mit seinem Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit (1952), von Heinrich Böll als ein „Trompetenstoß in schwüler Stille“ gewertet, der das Klima der deutschen Wiederbewaffnung mit dem mutigen Bekenntnis zur Desertion aus der faschistischen Wehrmacht konterkarierte. Als Motto hatte er seinem Bericht André Gides Bekenntnis vorangestellt „Ich baue nur noch auf die Deserteure“. Er apostrophierte seine Flucht aus der Wehrmacht als Schritt innerer und äußerer Befreiung und verband solches Bekenntnis mit der analytischen Abrechnung der Vorstellungen militärischen Rekrutierungsgeistes. Er enthüllt die Prämissen von Eidespflicht, Disziplin und Gehorsam als Bindungsformeln des Soldaten in eine mörderische Militärmaschinerie und pocht dagegen auf die selbständige Urteilsfähigkeit und verantwortliches Handeln auch des einfachen Soldaten. Zugleich zerstört er die Legenden von kameradschaftlicher Nähe, beschreibt Angst als elementares lebenserhaltendes Handlungsmotiv. Anderschs weitere literarische Arbeit wird darauf gerichtet sein, die Stellung des einzelnen im Spannungsfeld zwischen geschichtlicher Determination und Selbstbestimmung zu erkunden. Er hat solche Problematik von verschiedenen Facetten her beleuchtet, hat nach Haltungen in der Geschichte gefragt, nach dem Verhältnis von Freiheit und Bindung, hat das Recht und die Pflicht auf das Zerreißen von Bindungen und gesellschaftlicher Konventionen bestätigt, deren geschichtlicher Sinn sich ins Gegenteil verkehrt hatte.

Zu Alfred Anderschs Lebensthemen gehörte auch die programmatische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Bewegung, zu der er 19jährig als Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes von Südbayern gehört hatte. Die kampflose Hinnahme der Niederlage von 1933 durch die Kommunistische Partei gehörte zu seinen Grunderfahrungen, ebenso wie das Erlebnis eigener Angst und Ohnmacht im Konzentrationslager Dachau und die daraus folgende Überlebensstrategie der Anpassung in den folgenden 12Jahren. Aus solcher biographischen Erfahrung resultieren seine literarischen Themen um Bindung und Freiheit, Angst und Verrat, von befreiendem Handeln und seinen Bedingungen. Die programmatische Absage an die kommunistische Parteistrategie war Anlaß für die DDR, diesen Autor mit dem Verdikt des Renegaten zu belegen, so daß Andersch hier erst spät mit einer Sammlung von Erzählungen (Alte Peripherie 1972) ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit trat. 1976 wurde Winterspelt im Aufbau-Verlag publiziert.

Winterspelt heute zu lesen bedeutete für mich eine Wiederbegegnung mit dem Autor und den Konstellationen seines literarischen Werkes. Dabei überrascht die Brisanz des Werkes im Lichte aktueller kriegerischer Ereignisse. Winterspelt legt das Wiedererkennen vergangener Konstellationen im Heute nahe und vermittelt die durchdringende Erkenntnis, daß das Vergangene nicht tot ist, ja kaum wirklich als vergangen betrachtet werden kann. Die Aktualität des Buches liegt in seinem thematischen Angebot wie im geistigen Horizont. Es ist ein Buch gegen den Krieg, das von der möglichen Beendigung des Krieges mitten im Kriege erzählt. Alfred Andersch inszeniert in Winterspelt ein ästhetisches Sandkastenspiel gegen die militärische und politische Logik des Kriegführens. Gegenüber der geschichtlichen Gegebenheit dessen was war, pocht er auf die anderen Möglichkeiten in der Geschichte. Befragt das scheinbar Unabdingbare nach Handlungsalternativen. Andersch hat mit dem Roman ein erzählerisches Konzept entwickelt, das den offenen Charakter von Geschichte zugrunde legt und die in ihrem Verlauf nicht realisierten Möglichkeiten ins Auge faßt. Winterspelt ist der Name eines Dorfes in der Schnee-Eifel. Hier, nahe der belgischen Grenze, siedelt Andersch seine Romanhandlung im Oktober 1944 an, kurz vor der Ardennenoffensive, dem letzten Versuch der Wehrmachtsführung, sich gegen die alliierte Übermacht zu behaupten. Diese Schlacht sollte noch einmal Hunderttausenden von Soldaten auf beiden Seiten das Leben kosten. Mit einer Erinnerung Hemingways aus seinen 49 Depeschen beginnt Andersch, den Ort zu skizzieren: „Es war kalt, es goß, ein halber Sturm wehte, und vor uns lagen wie eine Mauer die schwarzen Forsten der Schnee-Eifel, wo die Drachen hausten.“ Deutsche und amerikanische Bataillone stehen sich gegenüber, es herrscht trügerische Ruhe.

In die kriegsgeschichtlich genaue Rekonstruktion des historischen Augenblicks stellt Andersch seine Erfindung, läßt seinen Roman um eine geschichtliche Leerstelle herum spielen, um einen Vorgang, den es nicht gegeben hat. Es handelt sich um den Plan von Major Dincklage für die kampflose Übergabe eines von ihm befehligten Wehrmachtsbataillons an die Amerikaner. An diesem Punkt schlägt die dokumentarische Rekonstruktion in Fiktion um, denn bekanntlich hat es einen solchen Plan innerhalb der Wehrmachtsgeneralität nicht gegeben, und Andersch läßt auch keinen Moment den Eindruck entstehen, als hätte es ihn gegeben. Das ästhetische Sandkastenspiel bleibt als gedankliches Angebot zum geschichtlichen Vollzug erkennbar, der nach nicht realisierten Möglichkeiten befragt wird.

„Sandkasten:
Geschichte berichtet, wie es gewesen,
Erzählung spielt eine Möglichkeit durch.“

Kriegsgeschichtliche Dokumentationen, einschließlich der rechtfertigenden Generals-Memoiren, bilden die Folie, vor der Andersch seine Erfindung spielerisch in Szene setzt, ironisch die Logik des kriegerischen Denkens durchbrechend.

„Es mag scheinen, als sei, indem Major Dincklages Plan enthüllt wurde, die Katze aus dem Sack der Erzählung gelassen worden. Davon kann nicht die Rede sein. Diese Erzählung macht sich nichts daraus zu erzählen, ob und wie es dem Major Dincklage gelingt oder mißlingt, ein nahezu kriegsstarkes deutsches Bataillon den Amerikanern zu übergeben. Obwohl sie sich als Schauplatz einen zu jener Zeit wirklich wilden Westen gewählt hat, kann sie sich nicht entschließen, zum Western zu geraten ... Schön wär’s ja, ... aber wie jedermann weiß, hat es die Übergabe eines Bataillons durch seinen kommandierenden Offizier an den Feind während des 2. Weltkrieges nicht gegeben. So weit darf Erzählung die Fiktion nicht treiben. Ihr genügt ein Sandkastenspiel.“

Um solches Sandkastenspiel zu inszenieren, zieht Andersch alle Register seiner Erzählkunst, schafft eine höchst anspruchsvolle Romanform aus heterogenen ästhetischen Elementen, die zu einer gedanklichen und ästhetischen Einheit verschmelzen. Mit Winterspelt hat Andersch eine ästhetisch hochrangige Form entwickelt, die die Grenzlinie zwischen Dokumentation und Fiktion mit zum Erzählelement macht. Der Erzählfluß ist aus vielen kurzen und kürzesten Erzählsequenzen montiert. Andersch selbst spricht in Anlehnung an entsprechende malerische Techniken von pointilistischer Erzählweise. Der Erzählfluß besteht aus unterschiedlichen Erzählformen, die aus verschiedenen Perspektiven dargeboten werden. In Biogrammen, mit berichtenden Elementen, dokumentarischen Einschüben und essayistischen Exkursen bringt Andersch eine komplexe Wirklichkeit in Sicht, die den Zusammenhang der Zeiten, vom Beginn des Jahrhunderts bis in die 40er Jahre, im Nebeneinander weit entfernter Räume, von den amerikanischen Südstaaten bis nach Deutschland, anschaulich macht. Kunstgeschichtliche Betrachtungen über Paul Klees Bild „Polyphon umgrenztes weiß“ werden zur Landschaftsbeschreibung der Schnee-Eifel in Beziehung gesetzt und verweisen auf die romaneigene Ästhetik. Eine solche Struktur macht die Vieldimensionalität und Komplexität der Wirklichkeit greifbar, es gelingt, in den kurzen Handlungszeitraum, in dem sich eine Aktion zwischen Personen vollzieht, vielschichtige Wirklichkeitsbezüge hineinzubringen. Die durchgehende Erörterung philosophischer Fragen, die um Objektivität, Determination und subjektiven Handlungsspielraum kreisen, bildet die integrative Ebene, auf der das Ganze zur ästhetischen Einheit wird.

Das Kammerspiel, das Andersch um eine geschichtliche Leerstelle entwirft, umfaßt wenige Figuren. Sie erweisen sich als Entwürfe für Handlungsformen und sind vom Autor mit modellhaften Zügen ausgestattet. Da ist Major Dincklage, durchaus kein Nazi, aber geprägt durch Vorstellungen von Offiziersehre und militärischer Logik; da ist Hainstock, ein ehemaliger Kommunist, mit dem der Autor in der Kontinuität seines Werkes bleibt, in dem er einen Figurentyp wiederaufnimmt, der, isoliert von jeder politischen Bewegung, zurückgezogen lebt, aufs Überleben bedacht, zwischen Resignation und Handlungswillen stehend. Er verdankt es seinen Kenntnissen über Steinbrüche, daß er aus dem Konzentrationslager entkommen ist, hofft als Steinbruchwärter zu unterwintern, lebt wie ein Waldkautz, beobachtend, ohne selbst gesehen zu werden. Daneben Schefold, der Grenzgänger und Kunstliebhaber, der zwischen den Fronten im Auftrag eines belgischen Museums Bilder zu bergen sucht. Schließlich gehört Käte dazu, eine junge Lehrerin, die spontan Handelnde, die den erzählten Vorgang in Gang setzt. Durch ihre Liebesaffäre zu Major Dincklage weiß sie von dessen Plan, an dessen Realisierung der freilich nicht mehr denkt. Sie berichtet Hainstock darüber, mit dem sie im ständigen politischen und weltanschaulichen Disput steht. Der erzählt Schefold davon, der seinerseits die Amerikaner mit dem Gedanken vertraut macht. Dincklage, wider Willen in den Vorgang hineingezogen, wünscht einen Vertrauensbeweis von der anderen Seite. Schefold soll durch die Linien kommen, als Zeichen für die Bereitschaft der Amerikaner, bei einer kampflosen Übergabe eines Bataillons keine Waffengewalt einzusetzen.

Schefold trifft dabei auf den Obergefreiten Reidel, der, weil er sich der Gunst seiner Vorgesetzten versichern will, den Kunsthistoriker erschießt. Er verkörpert gewissermaßen das unberechenbare Element des gesamten Plans, nämlich die Tatsache, daß die Befindlichkeit der einfachen Soldaten in ihm keine Rolle spielt. Das Duell zwischen diesem Obergefreiten und dem Kunsthistoriker wird zum handlungsauslösenden Element des Erzählens, bildet einen novellistischen Kern, der die gesamte Romankonstruktion durchzieht und in einem Spannungsbogen zusammenhält.

Es werden der Handlungswillen oder Nichtwillen der Beteiligten und deren Motive und Interessen korrigierend erörtert. Auch die Handlungsspielräume werden analysiert, indem auf die Rolle der Mannschaften im Verhältnis zu einer solchen Offiziersverschwörung verwiesen wird. Aber zugleich kommt der Preis des Nichthandelns in Sicht. Nicht nur Schefold, sondern die vielen Soldaten, die bei der Weiterführung des Krieges noch sterben werden. Hainstock hält nicht viel von solcher Offiziersverschwörung, verweist auf die fehlende Massenbasis solcher Aktion. Dincklage und die amerikanischen Befehlshaber, die mit „Verrätern nichts zu tun haben wollen“, sind in ihren Entscheidungen an Vorstellungen über Offiziersehre und Gehorsamspflicht gebunden, die ein selbständiges Handeln zur Beendigung von Krieg nicht zulassen. Sie gehören zur „Internationale der Offiziere“, deren Logik die des Krieges ist. Andersch hat ein differenziertes Bild der amerikanischen Seite gezeichnet. In Lebenshaltungen und Dialogen wird die Spannung zwischen demokratischem und konservativem Ordnungsdenken, zwischen Patriotismus und Chauvinismus angedeutet. Mit Hauptmann Kimborough, einem Südstaatenanwalt, zeichnet Andersch das Bild des demokratischen Amerika, drückt die Erwartung aus, daß es sich auf die eigenen Probleme konzentrieren wird.

Andersch hat hiermit eine Erfahrung wiederaufgenommen, die früh in sein Werk eingeflossen ist. Es waren die Inspirationen, die er als Kriegsgefangener in den USA in Lehrgängen über amerikanische Demokratie empfangen hat und die immer auch ein Maßstab seiner Kritik an der amerikanischen Politik der Nachkriegszeit waren. Dagegen finden im Machtdenken der militärischen Führung jene Erfahrungen ihren Niederschlag, die mit dem Vietnamkrieg und dem Kalten Krieg in Europa gemacht wurden.

Andersch erprobt mit erzählerischen Mitteln Möglichkeiten des Handelns gegen scheinbare Sachzwänge, fragt nach offenen Möglichkeiten, wo unabdingbare Determination zu walten scheint. Ein Handeln zur Beendigung des Krieges ist nicht überliefert. Daher bleiben die Risiken eines Planes zu seiner Beendigung ungewiß, wohingegen die Opfer des kriegerischen Fortgangs geschichtsnotorisch sind. Eine Aufforderung, Gedanken und Vorstellungsvermögen auf die Beendigung des Krieges zu lenken, mitten im Krieg!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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