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Von Büchern und Bunkern

Auf ehemaligem Militärgelände siedeln sich Antiquare an

 

An Wünsdorf, im südlichen Berliner Umland, fuhren die meisten Ausflügler vor Jahren achtlos vorbei. Was sollte da schon sein! Eine Garnisonsstadt im märkischen Sand. Ein riesiges Areal, abgeschottet durch kilometerlange Bretterzäune, unwirtlich, an den Eingangstoren kyrillische Buchstaben, rote Sowjetsterne. Eine „Verbotene Stadt“, ehemals Hauptsitz der russischen Truppen in Deutschland. 30000 Militärs und ihre Angehörigen lebten zeitweise hier.

Heute ist die „Waldstadt Wünsdorf“, so der Name für das ehemalige Militärgelände, offen für alle. Das Einheitsgrau der akkurat ausgerichteten Gebäude ist hellen Farben gewichen, kleine Geschäfte und Restaurants laden zum Besuch. Und für Bücherfreunde ist Wünsdorf an den Wochenenden eine besondere Reise wert. Seit Herbst vergangenen Jahres siedeln sich hier zunehmend Antiquariate an. Deutschlands erste Bücherstadt ist im Entstehen. „Fünfundzwanzig bis dreißig Antiquariate“, so Wolfgang Metz, Geschäftsführer der Bücherstadt-Tourismus GmbH, „werden künftig hier am Ort sein.“ Die Anregung für dieses Projekt stammt aus dem walisischen Hay-on-Wye, wo Richard Booth Anfang der 60er Jahre die erste Bücherstadt gründete. Weltweit hat diese Idee mittlerweile Nachfolger gefunden: in Frankreich, Belgien, Finnland, den Niederlanden, der Schweiz, den USA, Japan. Und was da mit Erfolg betrieben wird, sollte auch hierzulande einen Versuch wert sein. Der Start in Wünsdorf - im ehemaligen Kompaniebadehaus in der Gutenbergstraße ist vielversprechend. Statt nostalgischem Charme lichte Räume, auf rund 800 Quadratmetern Platz für etwa 80000 Bücher. Versuchung zum Stöbern, Schmökern, Kaufen. Gleich am Eingang verlockt ein „Wäschekorb aus Frohnau“ zum Zugreifen. Bücher für eine bis fünf Mark. Daneben „Wühlkästen“, jedes Buch 5 Mark. Andere Bereiche bieten wohlgeordnet Spezielles. Kostbarkeiten lagern in Vitrinen. Ob Antike, Exilliteratur, Militärgeschichte, Philosophie, Musik oder Wirtschaft - alle Sammel- und Wissensgebiete sind vertreten. Zehn Antiquariate haben hier ihr Domizil. Sie kommen vor allem aus Berlin, aber auch aus Frankfurt am Main, Braunschweig oder Wiesbaden. Die „Bücherstube“ erinnert eher an einen Rundgang durch eine Galerie. Bezahlt wird an einer Sammelkasse.

Matthias Severin betreibt seit 17 Jahren am Bayerischen Platz in Berlin ein Antiquariat. Das Konzept der Bücherstadt und günstige Mietbedingungen nennt er als Gründe, warum er in Wünsdorf eine Zweigstelle einrichtete. Geöffnet ist vorerst nur am Freitag, Sonnabend und Sonntag. Nicht jeder muß ständig präsent sein. Die Buchhändler vertreten sich gegenseitig nach dem Prinzip „einer für alle“. Ob da nicht Konkurrenzangst aufkommt? Das Gegenteil sei der Fall, meint Matthias Severin. „Wir führen uns wechselseitig Kunden zu.“

Im benachbarten Haus II offeriert Manfred Mäders Antiquariat „Bückware“ aus DDR-Verlagen. Der Name ist Programm. Es kommen Stammkunden, die ihre Sammlung vervollständi Literaturstätten gen wollen, und viele Neugierige, die hier manche Entdeckung machen können. Die „kleinen Schwarzen“ aus der Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt, die Edition Neue Texte des Aufbau-Verlages, Taschenbücher können zu DDR-Preisen erworben werden. Der obligat eingedruckte Preis in Mark der DDR, beständig ein Ärgernis, wenn das Buch als Geschenk gedacht war, bestimmt immer noch den Handelswert, aber jetzt wird in DM gezahlt.

Noch ist die Bücherstadt eine Baustelle. Saniert werden zur Zeit die ehemaligen kaiserlichen Pferdeställe, einer davon wird als Buchdrucker-Werkstatt hergerichtet. Als Freizeit-Angebot soll es für Schüler und Jugendliche praktische Versuche im Herstellen von Druckschriften geben. Einmal im Monat treffen sich die Antiquare und beraten nächste Vorhaben. Für den Sommer ist eine „Lange Nacht der Antiquariate“ angekündigt. Lesungen und Ausstellungen haben einen festen Platz im Veranstaltungsplan. „Musik in Krieg und Frieden“, so der Titel einer Ausstellung mit Büchern, Partituren, Noten, Plakaten aus den Jahren von 1870 bis 1945, ist derzeit zu sehen. Heiner Rekeszus aus Wiesbaden, der in der Bücherstadt ansässig ist, hat Bestände aus seiner Sammlung zu dieser Schau zusammengestellt. Eine solche Ausstellung stimmt hier besonders nachdenklich. Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist Wünsdorf von Waffen und Vernichtung geprägt. Aufgrund der verkehrsgünstigen Lage als kaiserlicher Truppenübungsplatz angelegt, folgte in den Zwanzigern die Reichswehr, riesige Bunkeranlagen entstanden in den dreißiger Jahren für das Oberkommando der faschistischen Wehrmacht. Reste der gesprengten Nachrichtenzentrale können heute besichtigt werden. Aufschluß über die Zeit nach 1945 gibt ein Garnisonsmuseum.

Fünf Jahre sind vergangen, seit die letzten russischen Soldaten Wünsdorf verlassen haben. Ein neues Kapitel ist aufgeschlagen. Das Konversionsgebiet „Waldstadt Wünsdorf“ ist dabei, sich zu einem attraktiven Wohn- und Touristenort inmitten reizvoller Landschaft zu entwickeln. Neue Arbeitsplätze sind im Entstehen. Geschichte, Natur und Kultur, in dieser Verbindung sieht Wolfgang Metz die Zukunft Wünsdorfs. Vom Militärstandort zum Bücherstandort - etwas Besseres konnte dieser Region am Ende dieses kriegerischen Jahrhunderts kaum passieren.

Gudrun Schmidt


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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