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Bernd Heimberger

Manöver Müller II

 

Schauen wir voraus! Schauen wir auf 2029. Was wird sein? Müller 100! Kunert 100! Wolf 100! Enzensberger 100! Wem wird, wenn, die Briefmarke gedruckt, wie sie dem 100jährigen Brecht gedruckt wurde?

Heiner Müller? Den dann, 2029, die Ministerpräsidentin des Landes Sachsen-Brandenburg-Mecklenburg die bedeutendste Hervorbringung der Literatur des Landes in den letzten hundert Jahren nennt?

Vermuten wir, vorausschauend, keine Marke für Müller. 2029. Nicht, weil es keine Briefmarken mehr gibt. Nicht, weil die Geschichte sich abgeschafft hat. Die Literaturgeschichte hat den Dramatiker archiviert, der nicht vom preußisch-sozialistischen Ankerplatz Berlin ließ. Die Literaturhistorie hat den Dramatiker als größten Plünderer des Georg Büchmann enttarnt. Die Wissenschaft hat den Autor als schwer faßbaren Verlagsvagabunden festgeschrieben. Die Literaturkritik hat den theatralischen Lyriker als Bühnennomaden ausgemacht, dem es nicht gelang, eine feste Müllerbühne zu zimmern. Müller, 2029, ist wieder auf das Maß gekommen, das er zu Lebzeiten erreicht hatte. Heiner Müller ist wieder gut für akademische Manöver.

Vermuten wir also nicht! Gehen wir von der Tatsache aus, daß die Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, zu einem Wochenend-Symposium einlädt. Das Thema der Veranstaltung lautet: „Die Metapher als dramatischer Ausdruck, das Drama als metaphorische Möglichkeit. Der Lyriker Heiner Müller. Eine Rezeption, basierend auf Band I der einzigen und unvollendeten Müller-Werkausgabe.“

Für Verunsicherung und Vergnügen sorgte unter den Versammelten bereits der Einführungsvortrag des bis dato völlig unbekannten Germanisten Philoktet Eppendorf. Der Basler Dozent, Jahrgang 2002, überraschte mit einer verblüffenden Recherche. Derzufolge gab es einen Vorläufer des zur Debatte stehenden ersten Bandes der Werkausgabe - „Die Gedichte“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. Der Jungwissenschaftler berichtete, daß der als „vorläufig“ deklarierte Gesamt-Gedichtband, besorgt von dem in Berlin tätigen Germanisten Frank Hörnigk, eine Nacharbeit der Ausgabe war, die von der in Frankfurt am Main lehrenden Germanistin Genia Schulz vorbereitet wurde. Weshalb ihre aufwendigen Editions-Bemühungen im vorliegenden Band unerwähnt blieben, konnte der Literaturarchäologe nicht herausfinden. Die Aufregung war groß. Sie steigerte sich, als der Vortragende Müller einmal einen Kastraten-Lyriker, ein anderes Mal einen kastrierten Lyriker nannte. Das Nichtzustandekommen der Schulz’schen Herausgabe, die nicht verwirklichte komplette historisch-kritische Ausgabe der Gedichte deutet auf wesentliche Defizite der überkommenen und meist bedenkenlos übernommenen Ausgabe der Gedichte hin.

Erneut brachte Eppendorf eine alte Frage vors Auditorium: Wann trat der Lyriker erstmals in Erscheinung? Sicherlich nicht erst im Gründungsjahr der zeitweiligen beiden deutschen Staaten. Das aber suggeriert seit Jahrzehnten der noch von Müller maßgeblich, wie es heißt, initiierte Band. War Heiner Müller ein Spätzünder?

War er ein Anfänger mit zwanzig? Dagegen spricht einiges. Für die Kastration des Lyrikers sprechen nicht nur Auslassungen: Nazistisch infiltrierte Lyrik eines Hitlerjungen? Das nie Aufbereitete spricht dafür wie die Festlegungen des Dichters, in der Werkdarbietung einer „brutalen Chronologie“ zu folgen. Für Eppendorf der untaugliche Versuch, den Schein unbeeinträchtigter Potenz zu wahren. Demonstrierte Müller totale Männlichkeit? War er totalitär in seiner Männlichkeit? Protestierte er gegen die Totalität des Männlichen? Unbeantwortete Fragen, die auch Antwort auf Müllers Unbeholfenheit gegenüber seiner seelenkranken Frau, der Dichterin Inge Müller, geben könnten. Sowie über das Stummsein in der Stunde ihres Selbsttodes - „DU BIST GEGANGEN DIE UHREN/Schlagen mein Herz Wann kommst du.“ Sowie die späten Erschütterungen, die Müllers Gedanken zum unbeachteten, schließlich aufgelösten Grab der Toten drängen. Ist im Falle Müller von Männlichkeit, von Totalität die Rede, muß vom Deutschtum Müllers gesprochen werden. So der Referent. Der Mühlstein des Dichters hieß Deutschland. Müller war ein deutscher Dichter und nichts als ein deutscher Dichter. Müller war ein Dichter in Deutschland. Müller lebte von Deutschland bis Deutschland. Von dem Deutschland Weimars bis zu dem der Bundesrepublik. In Deutschland geboren, in Deutschland gestorben, ist Heiner Müller nie in Deutschland angekommen. Sein Heimat-Land war die deutsche Sprache. Einen historischen Moment war Heiner Müller ihr Ideologe. Als er sich im Widerstand zu jeglicher Ideologie wähnte. Der Widerstand garantierte ihm die Unabhängigkeit in der ideologischen Abhängigkeit. Müller, so die These Eppendorfs, war dem Absoluten nie abhold, in dem sich Ideologie gefällt. Die Devise des Dichters war, Dogmen Dogmen gegenüberzustellen. Damit rückte er seine Dichtung in die Nähe biblischer Dimensionen. Die Rhetorik der Bibel in der Dichtung Müllers rechtfertigt nicht, warnte Eppendorf, Müller zum biblischen Rhetor zu stempeln.

Müller sollte zuerst als der gesehen werden, als der er uns in dem Gedichtband zuerst begegnet. Als Deutscher auf Gedeih und Verderb. Als deutscher Dichter, der Person und Programm 1949 in den Zeilen addierte: „Der Terror, vom dem ich schreibe, kommt aus Deutschland.“ Freimütig bekannte sich der Verfasser zur Umformung eines zitierten Satzes von Edgar Allan Poe, dem er eine geistig gravierend geänderte Richtung gab. Paul Zechs Titel „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“ muß Müller zu dieser Zeit noch nicht gekannt haben. Die deutsche Meisterschaft im Töten, der deutsche Todesterror waren die Kindheitsmuster des Kriegsgefangenen. Die Muster machten das Brandmal auf der Haut des Heiner Müller. Vertraut, verhaßt und Deutschland nie zu vergessen und nie zu verzeihen.

Der tötende Terror der Vergangenheit gestattete Müller keinen Vergleich mit dem gewöhnlichen Terror des ideologischen Terrorismus. Mit dem tötenden Terror konnte er in keinem Text „fertig“ werden. Fertig wurde er, und war er, mit dem real praktizierten ideologischen Terrorismus seiner Mannesjahre. Als Machthaber des poetischen Wortes glaubte sich Müller in der majestätischen Position. Sein königliches Wort war den Worten der Vasallen des ideologischen Wortes über. Heiner Müller war der Souverän. Der suchte sich seine Wahlverwandten aus. Der beutete sie aus. Der wechselte sie aus. Der Mann des Wortes hatte es mit den Männern des Wortes. Müller stellte sich nicht an. Müller stellte sich in eine Linie mit Seneca, Horaz, Brecht und Benn. Manchem nahm er manches Wort aus dem Mund und käute es wieder, bis es ein Wort aus dem Mund von Heiner Müller war. Von Anfang bis Schluß ist seine Dichtung deutlich in ihrem Abstand zum Gelebten. Gedanken hetzen Gedanken. Gehetzte Gedanken verhindern Handlungen. Müllers Texte sind Trotz-Reaktionen eines unheilbar Verletzten. Der konnte sich nicht lösen von der Beschreibung der Folter. Seine Lebens-Lektion war: „Die Folter ist leichter zu lernen als die Beschreibung der Folter.“ Heiner Müllers Texte trotzen dem Tod. Denn: „Der Tod ist ein Irrtum.“ Doch: „Die Toten haben das letzte Wort.“ Das irrtümlichste aller irrtümlichen Worte? Das unsterblichste aller unsterblichen Worte? Maßte sich Müller die Rolle des Stellvertreters der Toten auf Erden an? Um, zunächst und wenigstens, das vorletzte Wort zu haben? Das einzige Wort, das Sterbliche unsterblich macht? Und den Irrtum aufhebt? Den Fragen des Referenten folgten die Festlegungen. Heiner Müllers Verse sind Verse vom Vergehen. Seine Gedichte sind Gedichte, die den Tod vor das Leben stellen. Und deshalb kein Irrtum sind?

Heiner Müller glaubte, wie wir alle, der einzige Unsterbliche zu sein. Sterben tun die anderen. Als Müllers Sterben sich beschleunigte, schrieb er: „Ich sterbe zu langsam.“ Das, resümierte der Referent, ist der aufrecht gehaltene Gedanke, kein Opfer des Irrtums zu werden. Oder ist das die ewige Lebenseitelkeit, die der Lyriker in vitaleren Tagen formulierte: „Die Dichter ich weiß es lügen zuviel.“ Hat Heiner Müller zulange irrtümlich vor dem Irrtum gelebt? Hat Heiner Müller zu zeitig vor dem Irrtum kapituliert? Langsam ist Müller zu schnell gestorben, stellte Eppendorf fest. Er beendete seinen Vortrag mit den Worten: Heiner Müller ist uns die Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage schuldig geblieben- wie klatscht man Beifall zur eigenen Beerdigung? Das ist das letzte Wort, das die Toten haben. Also auch Heiner Müller. Das Wort, das in die Ewigkeit reicht. Und noch nicht gesagt ist. Von niemand. Nirgends.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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