Eine Annotation von Clara Conradi


Polgar, Alfred: Handbuch des Kritikers

Mit einem Nachwort von Marcel Reich-Ranicki.

Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997, 120 S.

 

Ausgerechnet Alfred Polgar (1873-1955), der sich ein Leben lang der kritischen Betrachtung literarischer Kunstwerke und theatralischer Kunstleistungen widmete, ließ beim öffentlichen Nachdenken über den Sinn der Buchkritik scheinbar desillusioniert verlauten, daß die Annahme, Kritik könnte einen pädagogischen Einfluß auf den Schriftsteller haben, ihn womöglich verleiten, in sich zu gehen, in tiefes Nachdenken zu verfallen und sich zu bessern, lediglich eine Annahme sei. Und auch für viele der „im Irrgarten der Literatur umhertaumelnden Lesewilligen“ würde sie Wichtigkeit lediglich dadurch erlangen, daß sie die Lektüre der Bücher, auch der angepriesenen, erspare. Ihren einzig unbestreitbar guten Sinn, so Polgar, habe Buchkritik für den Buchkritiker. Sie gäbe ihm Gelegenheit, „durch Feststellen von anderer Minderwertigkeiten seinen eigenen Minderwertigkeitskummer zu besänftigen und in der Verdunklung fremden Geistes das Licht des eigenen leuchten zu lassen“. Ebenso trefflich beobachtet wie ironisch-pointiert formuliert, ist dies allemal gültig bis in die heutige Zeit - als hätte Polgar dabei „Das literarische Quartett“ vor Augen gehabt. Nun heißt es zwar, daß, wer im Glaushaus sitzt ... Polgar allerdings beherrschte sein Handwerk - das des Schriftstellers wie das des Kritikers - virtuos. Wen wundert es da, wenn die öffentliche Meinung seinerzeit gegenüber seinen Büchern - kleine, dichte, tiefgründige Prosa, menschlich, geistig, literarisch von erstem Rang - „vornehme Zurückhaltung“ wahrte. Wer hätte sich schon mit dem als Meister der kleinen Form Gerühmten anlegen wollen, wer es mit ihm aufnehmen können ...

Daß seine Texte bis heute nichts von ihrem Witz und ihrer Aktualität verloren haben, beweist die Neuauflage vom Handbuch des Kritikers, ein 1938 erstmals erschienener Band Miniaturen zu Theater, Film und Literatur, von dem der Autor meinte: „Es ist ein, wie ich glaube, amüsantes Büchlein geworden.“ Womit er gewiß nicht übertrieben hat. Und nach der Veröffentlichung dieser Sammlung hatte Polgar wohl auch keinen Grund, sich über mangelnde Resonanz zu beklagen - in Prag, Moskau, Paris, Wien war die Kritik gleichermaßen begeistert und pries u. a. „jene Mischung von blitzartiger Weitsicht, von Witz, von Sprachhingegebenheit, von schmerzlicher Heiterkeit und humanster Haltung, Spiel an der Grenze des Spieles, Ernst an der dämmernd-äußersten Grenze des Ernstes, kurzum, jene Einheit von Anmut und Würde, die das Werk Polgars in einem Maße auszeichnet, daß es, um in seiner allerdings unnachahmlichen Diktion zu reden, ,vor Leichtigkeit in die Tiefe sinkt‘.“

Sechzig Jahre später rühmt Marcel Reich-Ranicki in seinem einfühlsam und, wie nicht anders zu erwarten, brillant formulierten Nachwort: „In diesem Werk finden Intellekt und Takt, Gewissen und Geschmack zu einer makellosen Einheit.“

Und es ist wahrlich ein geistvolles Vergnügen, sich mit „dem Virtuosen des diskreten und unauffälligen Stils“ die Zeit zu vertreiben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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