Eine Annotation von Hans-Rainer John


Saramago, José: Die Stadt der Blinden

Roman. Deutsch von Ray-Güde Mertin.

Rowohlt Verlag, Reinbek 1997/98, 400 S.

 

Eine imaginäre Stadt, eine Straßenkreuzung. Das Licht der Verkehrsampel wechselt auf Grün, aber einer der Wagen streikt. Der Fahrer springt verzweifelt heraus: „Ich kann nichts mehr sehen.“ Ein Passant springt ihm bei: „Ich fahre Sie nach Hause.“ Beratung mit der Ehefrau, Ruf eines Taxis, Fahrt zum Augenarzt. Die Sprechstundenhilfe gewährt Vortritt. Der Augenarzt kann keine Ursache finden, konsultiert Kollegen, informiert das Ministerium. Der hilfreiche Passant betätigt sich indes als Autodieb. Aber auch er erblindet, muß den Wagen verlassen, ein Polizist geleitet ihn ins Krankenhaus. Inzwischen haben auch Ehefrau, Taxifahrer, Sprechstundenhilfe und Augenarzt ihre Sehkraft eingebüßt, Autodieb, Polizist und Krankenschwester kommen hinzu - die Krankheit ist offenbar ansteckend, eine Epidemie. Das Ministerium reagiert sofort, sammelt Infizierte wie Verdächtige ein, isoliert sie in einem leerstehenden Irrenhaus. Es wird von der Armee abgeriegelt, dreimal täglich werden Verpflegungskisten abgestellt. Keine Hilfe sonst, und laufend neue Zugänge.

Wie organisiert sich eine solche hilflose Gemeinschaft? Wie bewältigt sie die Fährnisse des problem- und konfliktreichen Alltags? Wie geht sie mit Krankheit und Tod um, wenn jede Unterstützung von außen fehlt, mit Hunger und Durst, wenn der Nachschub ausbleibt, mit Unrat, Schmutz und Fäkalien, wenn die meisten sich schon selbst aufgeben? Auch unter Blinden noch organisieren sich die Stärkeren, berauben die Schwächeren, horten Nahrungsmittel, vergewaltigen die Frauen. Die Beherrschten zagen, dienen und leiden, oder sie organisieren Gegenwehr, um die Reste ihrer Würde zu verteidigen. Dantes Inferno tut sich auf.

Da entdecken die Insassen den Abzug des Wachpersonals. Sie verlassen das Ghetto und erkennen: Die Isolation der Kranken war wirkungslos, die ganze Stadt ist inzwischen infiziert und erblindet. Regierung, Polizei und Armee sind außer Dienst, kein Auto fährt, kein Mensch geht zur Arbeit, es gibt weder Licht, Gas noch Wasser, der Abfall staut sich auf. Die Blinden streifen in Gruppen umher, plündern die Läden, finden aber zu ihren Wohnungen nicht mehr zurück. Die Zivilisation ist am Ende angelangt. Bis dann ein Hoffnungsstrahl aufleuchtet und die Epidemie als eine Strafe erscheinen läßt, die zur Warnung und Bewährung verhängt worden ist.

Im ersten Teil werden die Blinden in ein Ghetto gesperrt und sich selbst überlassen - wer dächte da nicht an die jahrhundertelange Diskriminierung von Juden, Schwarzen, Indianern, an die Isolierung von Aussätzigen und Pestkranken. Aber die Separation erweist sich nicht als großer Gleichmacher und die Solidarität einer Notgemeinschaft ist nicht die logische Folge. Auch unter den Elenden gibt es Starke und Schwache, Arme und Reiche. Herrschsucht, Grausamkeit und Brutalität gibt es da genauso wie Liebe und Fürsorge, wie Widerstand gegen das Böse und das Bestreben, die menschliche Würde zu wahren. Wenn alle Varianten durchgespielt sind, die Geschichte ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat, breitet der Autor im zweiten Teil die Blindheit über die ganze Stadt. Das Horrorszenarium wird auf höherer Stufe weitergesponnen und das Ende der Zivilisation angedacht.

Saramago hat genial ein Modell erdacht und souverän durchgespielt, anhand dessen er die Frage nach dem Wesen unseres Menschseins aufrollen konnte: Die extreme Notsituation läßt die verborgensten Charakterzüge hervortreten, sie öffnet ungeahnte Abgründe der Pervertierung, läßt aber auch Kräfte erkennen, die in der Not wachsen, Fähigkeiten zum Mitleiden, zur solidarischen Hilfe und zum Widerstand. Der Leser wird in Aufregung und Spannung gehalten, weil meisterhaft eine Fülle von Figuren individualisiert wurden und wir die Vorgänge mit ihnen und durch sie erleben. Symbolisch ist es, daß eine einzige Frau ihre Sehkraft durchgehend behält. Sie hatte sich nur für erblindet ausgegeben, weil sie das Schicksal ihres Mannes teilen, ihn ins Ghetto begleiten wollte. Die ganze Blindheit ist an sich ein grandioses Symbol für die Gefährdung von Menschlichkeit und Menschheit.

José Saramago (77), Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist, gilt heute als bedeutendster Autor Portugals. Er wurde nicht nur mit dem Prémio Camões, dem wichtigsten Literaturpreis der portugiesischsprachigen Welt, ausgezeichnet, sondern unlängst auch mit dem Nobelpreis für Literatur. Die Stadt der Blinden, ein Roman, der ebenso verstört wie fasziniert, ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Mut zur Menschlichkeit und gilt mit Recht als eines der besten seiner Werke.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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