Eine Annotation von Gudrun Schmidt


Augstein, Jakob: Sieben Schüsse in Glienicke

Gerichtsreportagen aus Berlin. Mit einem Nachwort von Gerhard Mauz

Carl Hanser Verlag, München, Wien 1998, 132 S.

 

Gerichtsberichte werden gern gelesen. Eine Krimi-Story im Kleinstformat, bei der die Aufklärung des Falls exakt mitgeliefert wird und der Täter seine gerechte Strafe erhält. Dennoch ist es ein Risiko, ein Buch mit Gerichtsreportagen zusammenzustellen. Was für den Tag, aus aktuellem Anlaß und meist unter Zeitdruck geschrieben, wird hier anders wahrgenommen als beim Lesen in der S- oder U-Bahn. Und gute Gerichtsreportagen sind nicht allzu häufig.

Seit 1996 schreibt Jakob Augstein für die „Süddeutsche Zeitung“ über Gerichtsprozesse in Berlin. Im einleitenden Kapitel „Der Pelikan von Moabit“ resümiert er über die Justiz und die Profession des Berichterstatters. „Rechtsprechung ist kein fröhliches Geschäft und das Kriminalgericht in Moabit ist kein freundlicher Ort ... dreihundert Staatsanwälte, vierzig Große Strafkammern, einundzwanzig Sitzungssäle und Platz für eintausend Zuschauer allein im alten Haus ...“ Zu tun gibt’s genug. Moabit ist das größte Strafgericht der Bundesrepublik. Seit 1906 kamen hier alle aufsehenerregenden Strafverfahren der Hauptstadt zur Verhandlung. „Aber vor allem“, so der Autor, „schwemmt hier all das Treibholz an, aus den kahlen Hochhäusern und den stinkenden Kneipen ... Alles findet einen Namen, alles eine Strafe: Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Kindesmißbrauch, Raub und Körperverletzung.“ Nicht die großen, spektakulären Fälle stehen im Mittelpunkt der Reportagen. Den Schwachen, Gestrauchelten, durch eigene Schuld oder durch mißliche Umstände am Rand der Gesellschaft Lebenden wendet sich Jakob Augstein zu. Er ist ein sensibler, genauer Beobachter. Ihn interessieren Motive, Hintergründe, das Umfeld, aus dem das Verbrechen entstand. Tragikomische Züge hat die Geschichte von Herrn T., der nie etwas anderes gelernt hatte als Räuber. Indien galt seine große Sehnsucht. Über zwanzig Jahre hat er im Knast verbracht. Jedesmal, wenn er entlassen wurde, wollte er so viel Geld verdienen, daß es für Indien reicht. Aber ohne Vorbereitung in die Freiheit entlassen, konnte der Wiederholungstäter immer weniger damit anfangen. Der letzte Banküberfall ging wieder schief. Und für Indien, so sieht sich Herr T. selbst, wird er wohl nach weiteren neun Jahren Haft dann zu alt sein. Oftmals sind die Grenzen zwischen Täter und Opfer fließend. So in der Geschichte von Maria und dem Ende ihrer großen Liebe. 40 Jahre erträgt sie Schläge, Demütigungen ihres Mannes, bis sie ihn eines Nachts ersticht. „Sie hat einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein. Das Gericht spricht die Frau frei. Sie selbst spricht sich nicht frei.“

Jakob Augstein dokumentiert, beschreibt, fängt Stimmungen, Atmosphäre im Gerichtssaal ein. Mit Wertungen hält er sich zurück. Der Leser soll sich selbst ein Urteil bilden. Und nicht zuletzt spiegeln die Gerichtsreportagen Teil einer Wirklichkeit, die man in dieser Zuspitzung oft nicht wahrnehmen will. Das Nachwort von Gerhard Mauz ist ein gedankenreicher Essay über die Schreiber, die Journalisten, über verantwortungsvollen Umgang mit der Fülle von Informationen im multimedialen Zeitalter.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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