Eine Rezension von Herbert Mayer


Alltägliches und Persönliches aus der DDR

Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1998, 424 S.

 

Wolles Publikationen setzen sich meist mit der DDR auseinander, mit deren Gesellschaft und Staat er oft scharf, undifferenziert und pauschalisierend abrechnet. Auch in diesem Fall ist die DDR der Gegenstand. Im Unterschied zu anderen Titeln wird keine Verteufelung betrieben, Nostalgie ist sowieso nicht seine Sache. Wolle geht es hier um das Verhältnis von „Herrschaft und Alltag“. Am Alltag war er als DDR-Bürger unmittelbar Beteiligter und Zeitzeuge. Den Alltag haben etwa 17 Millionen DDR-Bewohner über 40 Jahre tagtäglich erlebt und „mitgestaltet“. Sie finden vieles wieder, was jedem auf die eine oder andere Weise widerfuhr, werden an Selbsterlebtes erinnert. Der einzelne dürfte dies subjektiv sehr verschieden erlebt, interpretiert und verarbeitet haben. Wolle weist indirekt darauf hin: „Auch in den öffentlichen Disputen zwischen ehemaligen Bürgern der DDR entsteht oft der Eindruck, als sprächen Menschen miteinander, die in unterschiedlichen Welten gelebt haben. Die einen erinnern sich an die Fünf-Pfennig-Schrippe, an die angeblich so guten Kindergärten und die netten Brigadeabende im Arbeitskollektiv. Die anderen weisen mit anklagendem Pathos auf die Toten an der Mauer, nennen die Zahlen der politischen Unrechtsurteile und das Spitzelunwesen.“ (S. 17) Auch sein Buch widerspiegelt zwangsläufig eine, seine, subjektive Sicht, zugespitzt meint er, daß sich die DDR-Geschichte nur „von unten“ erzählen läßt, als Geschichte ihrer Menschen, ihrer Wünsche und Hoffnungen.

Wolle gliedert seinen Band in sieben Teile, die von einem Prolog, „Im Labyrinth der Vergangenheit“, und von einem Epilog, „Die Dialektik des Untergangs“, eingerahmt werden. Sie befassen sich mit den Themenkomplexen „Wandel und Kontinuität“, „Die DDR und Europa“, „Strukturen der Macht“, „Herrschaft und Unterwerfung“, „Gesellschaft und Wirtschaft“, „Elemente der Krise“ und „Der Weg in den Zusammenbruch“. Sie werden ergänzt durch eine thematische Literaturauswahl, Personenregister und eine Zeittafel 1969-1990.

Das Buch ist im Gegensatz zu vielen dicken Geschichtswälzern durchaus lesbar. Anschaulich und materialreich, humorvoll und ironisch, bitter und zornig wird geschildert, was Tag für Tag vor sich ging. Zu diesen DDR-Realitäten gehörten zum Beispiel die Intershops, die die „klassenlose“ Gesellschaft in zwei Schichten spalteten, in die, die D-Mark besaßen, und die, die keine besaßen. Man erfährt, wie man und wer Reisekader wurde, womit sich das Politbüro befaßte, welche vermeintlichen und tatsächlichen Privilegien existierten, wie die Frauen Familie und Arbeit unter einen Hut brachten. Erinnert wird daran, was in der DDR nicht direkt verboten, aber auch nicht direkt erlaubt war: West-Fernsehen, D-Mark und Ausreiseanträge. Um etwas bei betrieblichen und staatlichen Instanzen durchzusetzen, wirkte oft allein die Ankündigung der Drohung „ich schreibe an Honecker“ (S. 53). Wolle bietet auch Obskures der alltäglichen Propaganda: Der „Erhöhung der Rolle der Partei“ folgte die „weitere Erhöhung...“, dieser die „ständige weitere Erhöhung“ und schließlich die „noch weitere ständige Erhöhung“ oder gar die „Erhöhung in bisher unbekanntem Maße“. Den Lebensentwurf eines „Normalbürgers“ skizziert er wie folgt: Die Autoanmeldung erfolgte angesichts der langen (16- bis 18jährigen) Wartezeit in der Regel bei Volljährigkeit, wer klug war, stellte gleichzeitig einen Antrag auf Wohnung und Telefonanschluß, auch „alle weiteren wichtigen Daten lagen bereits fest: drei Jahre Armee, fünf Jahre Studium, Hochzeit, zinsloser Ehekredit, Babyjahr, fünf Jahre Warten auf die Wohnung, drei Jahre Sparen für die Einrichtung der Zwei-Raum-Vollkomfort-Wohnung mit Schrankwand und Farbfernseher - und schon stand der „Trabi vor dem Neubaublock“ (S. 127). Das ist zwar nicht alles wörtlich zu nehmen - die Armeedienstzeit dauerte z. B. in Wirklichkeit anderthalb Jahre und das Studium meist vier Jahre -, doch ist in diesen Satz viel über den Alltag hineingepackt. Wolle folgt in seinen Darlegungen durchaus seiner im Klappentext verkündeten Prämisse, in der er als Aufgabe des Historikers postuliert, aus der Materialfülle „die Beispiele aus(zuwählen), die ihm besonders typisch oder bedeutsam erscheinen. Denn dem Wesenskern der Dinge - so, wie er ihn sieht - nähert er sich nicht durch den statistischen Mittelwert. Ausgewogenheit und Proporz sind nicht das Ziel der Übung.“ Allerdings haben sich öfters in seine Fakten und Daten auch Fehler und Ungenauigkeiten eingeschlichen. So bei der Parteigliederung der SED (bei der zudem eines ihrer wichtigsten Gremien, das Sekretariat des ZK, fehlt), für Ulbricht nennt er ein falsches Ablösedatum, verwechselt werden Mitglieder/Kandidaten des Politbüros mit denen des ZK der SED (das Politbüro der SED hätte 1986 demnach 165 Mitglieder und 57 Kandidaten umfaßt).

Bei einigen diffizilen Fragen vermeidet er absolute Bewertungen. So hält er sich in der Einschätzung, ob die Ablösung Ulbrichts durch Honecker das Ergebnis eines politischen Richtungsstreits oder ein rein persönlicher Machtkampf war, sinnvollerweise zurück: „Auch nach dem Studium der Akten bleibt das Bild verschwommen. Es fehlte gewiß nicht an politischen Differenzen.“ (S. 36) Zum Verhältnis der DDR-Führung zur Sowjetunion schlußfolgert er, es gebe einerseits keine eindeutig Beweise für ein unmittelbares Eingreifen der sowjetischen Führung in die Belange der DDR, andererseits wäre aber offensichtlich auch keine wichtige Entscheidung ohne oder gar gegen die sowjetische Führung getroffen worden. Ob die Blockparteien und die Massenorganisationen „heimliche Opposition oder Verbündete der SED“ waren, läßt er ebenfalls offen, die Wahrheit liege irgendwo in der Mitte. Nicht ausreichend ist ihm, „die fast regelmäßige 99-Prozent-Zustimmung“ bei den Wahlen aus der Furcht vor Repression abzuleiten, „denn allein wegen seines Wahlverhaltens hat man niemanden gerichtlich belangt“ (S. 118/119), selbst eine Mischung aus Angst, Gleichgültigkeit und politischer Indoktrination erkläre das Wahlverhalten bis Mai 1989 nur teilweise. Sicher ist ihm zustimmen, daß Oppositionsgruppen nur 1989 für einen kurzen historischen Moment politisches Gewicht erlangten und sonst über keinen nennenswerten Anhang verfügten. Als die Mauer fiel, „begann der D-Mark-Rummel, der Ausverkauf des Ostens und die große Abwicklung, welche die Demokratiebewegung gleich mit erfaßte. Statt um den Freiheitsbaum tanzten die Menschen nun um das Goldene Kalb der Wohlstandgesellschaft.“ (S. 327) Die Gleichsetzung zwischen der Herrschaft der Nazis und der SED hält er im Kern für wenig tragfähig, da es sich um eine völlig unterschiedliche ökonomische, politische und ideologische Struktur beider Systeme handelt. Auch Erklärungsmuster wie Unrechtsstaat, Diktatur und Despotie taugten nicht, die komplexe Wirklichkeit zu erklären, selbst das vielbenutzte Wort von den „beiden deutschen Diktaturen“ suggeriere eine Zweiteilung der deutsche Geschichte in einen positiven (demokratischen) und negativen (diktatorischen) Abschnitt. Das übersehe, daß Bundesrepublik und DDR sich stark aufeinander bezogen und zugleich voneinander abgrenzten, um so sich selbst und ihren Standort zu definieren. Es bleibt zu resümieren: Bei der Vielzahl der vorhandenen Titel über die DDR hat Wolle mit seinem Buch eine bisher nicht oder kaum behandelte Thematik angegangen. Das ist verdienstvoll, fordert aber heraus, hier weiter nachzugraben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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