Eine Rezension von Haci-Halil Uslucan


Migrationsprobleme Jugendlicher

Hermann Tertilts: Turkish Power Boys
Ethnographie einer Jugendbande.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 264 S.

 

Ein Einblick in die Praxis der Bewährungshilfe in den Großstädten zeigt, daß Migrantenkinder in zunehmendem Maße im Zusammenhang mit gewalttätigen Konflikten auftauchen. Diese Tatsache wird, mit gewissen Einschränkungen, von den offiziellen polizeilichen Kriminalitätsstatistiken bestätigt. Wenngleich diese Statistiken vielfachen Verzerrungen unterliegen - ausländerspezifischen Delikten (Verstoß gegen Einreise-, Aufenthalts-, Arbeitsbestimmungen etc.), unterschiedlichen Strafverfolgungspraktiken gegenüber Ausländern, die wesentlich jüngere Bevölkerungsstruktur von Migranten usw. -, ist die Zahl von straffällig gewordenen jungen Ausländern im Alter von 14 bis 18 Jahren in deutschen Großstädten überdurchschnittlich hoch.

Hierbei sind den sozialpädagogischen Präventionen und Interventionen Grenzen gesetzt, die nicht nur in sprachlichen Barrieren zu sehen sind, sondern weitestgehend in einem mangelhaften Verständnis der spezifischen Migrationsbelastungen, der kulturellen Verhaltensmuster sowie von Wertestandards, die sich unbeschadet von einer anatolisch-agrarischen Lebenswelt in eine teutonisch-technisierte Gesellschaft haben hinüberretten können.

In der vorliegenden Ethnographie einer türkischen Jugendbande in Frankfurt, Bezirk Bornheim, unternimmt Hermann Tertilts den Versuch, detailreich die sozialen Lebenswelten und die biographischen Hintergründe der beteiligten Migrantenkinder zu rekonstruieren. Zwei Jahre lang hat er die Jugendlichen auf ihren Wegen, Abwegen und Irrwegen begleitet und dabei einen artistischen Seiltanz zwischen der Nähe krimineller Mitwisserschaft einerseits und distanziertem Objektivismus andererseits vollzogen.

Zunächst wird die Geschichte der Bande erzählt - ihr soziales Setting (Räumlichkeiten, Treffpunkte), der soziale Status ihrer Mitglieder und ihre Rekrutierungspraxis.

Im zweiten Teil beschreibt der Autor akribisch die biographischen und familiären Verwurzelungen dreier repräsentativer Bandenmitglieder, die sich bis in das heimatliche Dorf erstrecken.

Im dritten Teil, dem stärker theoretischen, widmet er sich explizit den Wertebindungen und Verhaltensmustern in der Bande. Als exemplarisch an den Beleidigungsduellen sind hier die Initiationsmechanismen der Gewalt, die spielerisch-verbale Einübung der Eskalationsprozesse zu erkennen.

Allerdings fehlen m. E. theoretisch gebündelte und empirisch fundierte Erklärungen und Aussagen zum allgemeinen Problem der Jugendgewalt bzw. spezifisch zu dem der ausländischen Jugendgewalt.

Gewalthandlungen haben ein Janusgesicht: Sie sind sowohl situativ unbestimmt als auch regelgeleitet. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die von außen allzu leicht als irrational und nicht nachvollziehbar erscheinen, gehorchen aber einer eigentümlichen Logik und Semiotik, d. h. sie haben ein, wenngleich nur vage bestimmtes Verlaufsmuster und bestimmte Initiierungszeichen. Der Gewalt geht regelmäßig eine „Anmache“ voraus, die eine symbolische und symbolvermittelte Herausforderung darstellt. Zum Ehrenkodex der Akteure gehört es, den Gegner zunächst zum Kampf herauszufordern, bevor sie ihn direkt angreifen. Dabei kann bei einer objektiven Betrachtung nicht mehr genau ausfindig gemacht werden, ob sie selbst „anmachen“ oder sich „ angemacht“ fühlen und somit auf eine Herausforderung entgegnen. Die Situation der Anmache stellt, in Goffmans Terminologie, ein „Charakterwettkampf“ dar.

Die „Semiotik der Anmache“ verläuft über visuelle (schiefer Blick) verbale (Beleidigung, Beschimpfung) und haptische Zeichen (Anrempeln, Berühren).

Zur Erklärung der Entstehung gewaltförmiger Auseinandersetzungen scheint sich das in der Mikrosoziologie und Interaktionsforschung bekannte „Thomas-Theorem“ zu eignen: Die von den Akteuren subjektiv als real definierte Situation ist für die Betroffenen auch objektiv real mit all ihren Implikationen und den erforderlichen Handlungsketten; d.h. im Klartext: Die Situation kann von einem äußeren Beobachter als harmlos, als entschuldbares Vergehen, als eine vom Akteur selbst hergestellte Provokation etc. gesehen und bewertet werden, doch für den Handelnden sind solche rationalistischen Gründe zunächst nicht einsehbar.

Für ein Verständnis der Motive und Ursachen der Konflikte von und mit orientalischen Ausländern ist der Komplex von Gewalt und Ehre zentral.

Einer Anmache gegenüber passiv zu bleiben konnotiert in dem lebensweltlichen Kontext der türkischen Jugendlichen eine sexuelle Passivität, und zwar das symbolische Einnehmen der Position der Frau bzw. des passiv Schwulen, also dessen, der sich im weitesten Sinne mit Blicken, Worten, Handlungen penetrieren läßt. Deshalb ist ein Verständnis von Gewalt entkoppelt von der sexueller Identität, dem spezifischen Konzept von Männlichkeit, fast aussichtslos. Unterlegenheit, Passivität, gesenkter Blick sind Attribute der traditionellen Vorstellung von einer Frau.

Der Autor beleuchtet daher, sich eng an die Äußerungen der Beteiligten lehnend, das Verständnis von Männlichkeit, Ehre und vom Ideal der Freundschaft.

Gleichzeitig wird in dieser Studie einer einseitigen Definition von der zerrütteten Familie als Gewaltquelle bzw. als Nährboden von Gewalt und Aggression ein differenzierteres Bild entgegengehalten: Für die Jugendlichen gehören in allen Fällen ihre Familien mit zur wichtigsten sozialen Referenz in ihrem Leben. Sie haben zwar nur ein fragmentarisches Bewußtsein ihres Migrantenstatus, das ihnen aber eine gewisse ideologische Legitimationsbasis gibt (die Jugendlichen „rippen“ nur die Deutschen). Diese Taten sind zumeist nicht politisch motiviert, sondern eher als ein Versuch zu werten, die Eintönigkeit der gelebten Wirklichkeit bunter und aufregender zu gestalten. Gewalthandlungen resultieren nicht nur aus individuell-biographischen Motivationen heraus, noch sind soziale Deprivationserfahrungen für sie ursächlich; sie als Ausdruck politischer Überzeugung und Reaktion auf gesellschaftliches Unrecht zu werten hieße, eine nachträgliche Ideologisierung vorzunehmen. Wenngleich sich das Bedingungsgefüge der Gewalt als ein Konglomerat aus diversen Faktoren ohne eine monokausale Erklärung zeigt, ist für die Akteure selbst die Gewichtung dieser Faktoren nur in den seltensten Fällen offenbar.

Ein Buch, das besonders für Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Jugendrichter und Psychologen, die ausländische Jugendliche zu ihrem Klientel haben, zu empfehlen ist. Darüber hinaus aber auch empfehlenswert für jeden, der sich dem Komplex Migration auf eine spannende, informative und anregende Weise nähern möchte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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