Eine Rezension von Karla Kliche


Ein Leben auf modernste Weise lesen

Peter Staengle: Heinrich von Kleist

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 159 S.

 

Wäre Heinrich von Kleist kein Dichter, gäbe es dieses Buch nicht. Und dennoch steht hier weniger der Dichter im Mittelpunkt, sondern der Mensch, die Persönlichkeit Kleists - in seiner Zeit. Und diese war eine im Umbruch, wenn man bedenkt, was sich zwischen seinen Lebensdaten 1777 und 1811 in Europa und Preußen (wo die Reformer 1807/08 die Voraussetzungen für die längst anstehende Modernisierung schufen) ereignete. Umbrüche bringen Widersprüchliches generell und Widersprüche im Menschen mit sich. In Kleist exemplarisch? Aus einem alten pommerschen Adelsgeschlecht stammend - ohne nennenswerten Grundbesitz -, wurde er „standesgemäß programmiert“, wie das Kapitel über seine ersten reichlich zwei Lebensjahrzehnte heißt. Und das bedeutete: Offizierslaufbahn in der preußischen Armee, aus der er sich dann - ungewöhnlich genug - 1799 herausgekämpft hatte (und in die er - vergeblich - 1811 in höchster materieller Not wieder um Aufnahme ersuchte). Sich so aus der tradierten Programmierung nehmend, war er auf sich selbst zurückgeworfen, wenn auch immer wieder unterstützt durch seine Schwester Ulrike und später die Cousine Marie, gelegentlich auch durch Förderer. Im Hintergrund aber immer die „Familie“ (heute entspräche dem wohl „Clan“), die seinem Treiben gern und energisch ein Ende gesetzt sähe. Kleist macht immer wieder Projekte für sein Leben. Ist bei jedem anfangs euphorisch, bricht sie aber immer wieder ab, oder ihn zwingen die Umstände, an denen er durchaus auch Anteil hat, immer wieder zum Abbruch. Nicht selten Flucht. Kontinuität hat sein Schreiben, wobei man sich oft fragt, woher er die Zeit nahm, das zu tun. Anfangs wies er es von sich, davon zu leben, in der letzten Zeit seines Lebens forderte er von seinem Verleger nicht mehr das Honorar, sondern überließ diesem, die Höhe zu bestimmen - wenn er nur überhaupt etwas zahlte ...

Peter Staengle, Mitarbeiter an der „seit 1988 erscheinenden Brandenburger Kleist-Ausgabe“, ist ein vorzüglicher Kenner der Kleistschen Lebensumstände und der Kleistforschung. Ist das Leben Kleists über weite Strecken, u. a. durch seinen regen Briefwechsel, gesichert belegt, liegt es doch streckenweise völlig im dunkeln, worüber dann heftig spekuliert wurde und wird, auch die Phantasie z. B. von Christa Wolf beflügelte, so sein spurloses Verschwinden 1804 (vgl. Kein Ort. Nirgends). Staengle gibt solche Spekulationen, Deutungen und Hypothesen (ebenso wie die Legenden über „Kleist und die Frauen“) mit aller Vorsicht wieder; seine eigene Position macht er als Vermutungen kenntlich.

Natürlich spielen auch die Werke Kleists eine Rolle in diesem Band. Doch erwarte man hier nicht eingehende Interpretationen. Aber der Autor kennt die bisherigen - und die neuesten. Und so kann er auf knappste Weise leseorientierend wirken. Die Intensität des Eingehens hängt vom Werk selbst ab. So ist es mitunter nicht viel mehr als die Stoffgeschichte. In der Hermannsschlacht kommt er natürlich ohne die nationalistische Rezeptionsgeschichte seit dem Ersten Weltkrieg nicht aus, vermerkt aber andererseits auch die auf die Tiefenschichten dieses Werkes zielende Inszenierung von Klaus Peymann (1982). Staengle zeigt auch, wo Kleist aus seiner Situation heraus Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack macht, etwa im Käthchen von Heilbronn (dem Spiegelstück zur Penthesilea) oder mit Prinz Friedrich von Homburg, dem Stück „aus der Brandenburgischen Geschichte“, wie Kleist schreibt, und wo Staengle an einigen Details zeigt, daß es „alles andere als ein Hymnus auf Preußens Gloria“ ist, was bei Hofe durchaus registriert wurde. Bei den noch zu Lebzeiten erschienenen beiden Bänden Erzählungen geht er intensiver auf die des zweiten Bandes ein, die weniger bekannt sind. Und hier berührt er auch die ästhetische Modernität von Kleists Schreiben: Die Erzählungen (aber eben nicht nur sie) „stellten keine Identifikationsmuster bereit“, denn „solchen Erwartungen liefen Kleists Texte geradewegs zuwider“, sie waren wie die „Wirklichkeit, und die war grausam, unfriedlich, ohne Trost, ein Schauplatz der Anarchie und des Aufruhrs“; wolle man Kleist „eine Wirkungsabsicht unterstellen, so die der Verunsicherung“.

Die Reihe des Deutschen Taschenbuch Verlags, in der dieser Band erschienen ist, heißt „portrait“ und ist - laut Übersicht auf der unpaginierten Seite - der elfte (der ihm zuletzt vorangehende war Mallarmé gewidmet). In der Gestaltung scheint mir diese Reihe von den neuen elektronischen Medien beeinflußt oder auch: damit verbundenen „Leseweisen“ angepaßt. Man kann „zappen“ - oder quasi „links“ anklicken - zwischen dem gut geschriebenen fortlaufenden Text und den zahlreichen Illustrationen sowieso, aber vor allem den am unteren Rand (gelegentlich auch am oberen) farbig abgesetzten zusätzlichen „Textbausteinen“, die Zitate von Kleist selbst, von Zeitgenossen, zeit- und kulturgeschichtlich Erhellendes (köstlich S. 104), tabellarische Übersichten usw. enthalten. So ist der eigentliche Text von notwendigen Exkursen oder umfängliche Zitaten entlastet, steht aber doch zur Verfügung. Entlastet ist er auf alle Fälle von Anmerkungen/Fußnoten, statt dessen ein informativer Anhang mit Zeittafel, Bibliographien und Namensregister. Eine aufwendig, man möchte fast sagen liebevoll gestaltete Reihe zu einem kommoden Preis. Geeignet, dem vorgestellten Autor Leser zu gewinnen ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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