Eine Rezension von Jürgen Birg


Das Problem, die Geschichte unseres Jahrhunderts zu schreiben

Eric J. Hobsbawm: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?

Aus dem Englischen von Udo Rennert.

Carl Hanser Verlag, München 1998, 368 S.

 

Der Autor, Historiker und Zeitzeuge unseres Jahrhunderts, erhielt jüngst den mit 20000Mark dotierten Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung, der vom Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels jährlich für besondere Verdienste um den Europagedanken und Völkerverständigung verliehen wird. Hobsbawm wurde 1917 im ägyptischen Alexandria geboren, ging in Wien und Berlin zur Schule und lebt seit 1933 (vorwiegend) in London. Als Geschichtsprofessor wirkte er u. a. in London, Stanford, New York und Paris. Er gehört zu den anerkannt bedeutendsten Geschichtswissenschaftlern unserer Zeit. Wie nur wenige, zeichnet er sich als Universalgeschichtler aus, verfügt über enzyklopädisches Wissen und versteht sich auf verschiedene Themen und Gegenstände. Vor allem vermag er sowohl konkrete empirische Geschichtsforschung zu betreiben, als auch gewonnene Resultate theoretisch und methodologisch zu verarbeiten. Das Aufgreifen der Sozialgeschichte ist nicht nur in Deutschland mit auf sein Wirken zurückzuführen. In seinen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten hat er stets Aspekte der geistig-kulturellen Entwicklung und die globalen Probleme einbezogen. Zumindest einige Hauptwerke sind ins Deutsche übersetzt, zuletzt Das Zeitalter der Extreme (1995), davor u. a. Europäische Revolutionen 1789-1848 (1962), Die Blütezeit des Kapitals 1848-1875 (1977), Das imperiale Zeitalter 1875-1914 (1989) sowie Nationen und Nationalismus (1991).

Im vorliegenden Band resümiert er gleichsam sein Nachdenken über die Geschichte im allgemeinen und sein eigenes Erleben im 20. Jahrhundert im speziellen. Nicht ganz uninteressant, der englische Originaltitel lautete schlicht On History, der deutsche - verkaufsfördernde? - Titel irritiert da etwas. Die Geschichte in ihrer Gesamtheit, in ihrer Totalität aufnehmend, stellt sich Hobsbawm der Frage: Woher kommen wir, und wohin gehen wir? Das führt am Ende des Jahrhunderts zur quälenden Frage: „Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte?“

Die 21 abgedruckten Aufsätze entstanden in drei Jahrzehnten, größtenteils als Vorträge, manche werden erstmals veröffentlicht. Sie geben Auskunft über Leistungen und Fehlleistungen, Stand und Zukunft der Geschichtswissenschaft. Sie befassen sich mit Fragen des Geschichtsbewußtseins und mit unserem Wissen um Geschichte, mit dem „Gebrauch und Mißbrauch von Geschichte“ in Gesellschaft und Politik (so die Abschnitte „Das Bewußtsein von einer Vergangenheit“, „Was kann uns Geschichte über die gegenwärtige Gesellschaft sagen?“, „Der Blick nach vorn: Geschichte und Zukunft“, „Von der Sozialgeschichte zur Gesellschaft). Behandelt wird das Wechselverhältnis der Historiographie mit anderen Wissenschaften sowie Prinzipien und Methodologie des Historikers („Historiker und Ökonomen“, „Über Parteilichkeit“, „Was haben Historiker Karl Marx zu verdanken“, „Marx und Geschichte“). Auch verschiedene Disziplinen der Geschichtswissenschaft reflektiert der Autor (so in „Die Wiederbelebung der narrativen Geschichte“, „Geschichte von unten“, „Geschichte als Gesellschaftsgeschichte“). Die abschließenden Kapitel befassen sich mit Themen wie „Die Gegenwart als Geschichte“, „Können wir die Geschichte der Russischen Revolution schreiben?“, „Barbarei: eine Gebrauchsanleitung“ und „Identitätsgeschichte ist nicht genug“.

Hobsbawm bekennt sich nach wie vor zur „materialistischen Geschichtsauffassung“ von Marx, die er „für den bei weitem besten Wegweiser zur Geschichte“ ansieht. Eine ernsthafte Diskussion über Geschichte ist für ihn nicht möglich, wenn sie „sich nicht auf Marx bezieht oder, noch genauer, die nicht von denselben Prämissen ausgeht wie er“. Seine durchaus logische Konsequenz ist, Marx und den Marxismus („innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft“) zu verteidigen. Sein Marxismusverständnis erweist sich wie in früheren Publikationen alles andere als dogmatisch. Wie sich Hobsbawm materialistische Geschichtsschreibung vorstellt, führt er eindrucksvoll vor.

Der Grundtenor seiner Darlegung: Die Geschichte nehme nicht den Platz in der Gesellschaft ein, der ihr zukomme. Doch über ihre Aufgabe ist er sich klar. „Was wir wissen möchten ist nicht das Was, sondern auch das Warum.“ Die Geschichtswissenschaft müsse verallgemeinern, differenzieren und unterscheiden. Keineswegs dürfe sie sich auf Tatsachen reduzieren, wobei natürlich Quellen und ihre Belege das Fundament jeder geschichtswissenschaftlichen Arbeit bilden, eine Form sind, mit der der Historiker seine Verantwortung wahrnimmt. Unmißverständlich bekundet Hobsbawm seine Ansicht, daß Historiker und Sozialwissenschaftler „ziemlich hilflos sind, wenn sie mit der Zukunft konfrontiert werden, nicht nur, weil wir das alle sind, sondern auch, weil sie keine klare Vorstellung davon haben, was das von ihnen untersuchte Agglomerat oder System eigentlich ist und - ungeachtet der bahnbrechenden Vorarbeit von Marx - in welcher Weise genau seine verschiedenen Elemente aufeinander reagieren“. Ob es in der Geschichtswissenschaft Fortschritt gebe, lasse sich nicht unmittelbar beantworten. Verständnis von Gesellschaft setzt Verständnis von Geschichte voraus, ohne Geschichte auf die Zukunft zu schauen sei blind und gefährlich.

Geschichte ist letztlich immer Teil einer Universalgeschichte, kann nicht verengend aus einem Blickwinkel erfolgen: „Eine Geschichte, die nur auf Juden zugeschnitten ist (oder Afro-Amerikaner oder Griechen oder Frauen oder Proletarier oder Homosexuelle), kann keine gute Geschichte sein, auch wenn sie für diejenigen, die sie betreiben, eine tröstliche Geschichte sein kann.“ Nachdrücklich wendet er sich dagegen, Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit historisch begründen zu wollen. Besorgt ist Hobsbawm über die Gesellschaftsperspektive: Der Vormarsch der Barbarei in unserem Jahrhundert sei nicht zum Stehen gekommen, sie sei durch vier Phasen befördert worden: durch Ersten Weltkrieg, Weltkrise zwischen 1917-1920 und 1944-1947, Kalten Krieg und den „allgemeinen Zusammenbruch der Zivilisation in großen Teilen der Welt seit den achtziger Jahren“. Das ist eine kritische Rückschau und düstere Prognose, mancher mag sie in Frage stellen, aber vielleicht sollte sie in einer Analyse und Diagnose doch zur Kenntnis genommen werden.

Hobsbawm persönliche, fast ein Jahrhundert umfassende Erfahrung vereint sich in diesem Band mit wissenschaftlicher Analyse zu einer äußerst nutzbringenden Lektüre. Durchgängig ist sein moralischer Kodex als Historiker zu spüren: die Verantwortung gegenüber den historischen Tatsachen sowie die Verpflichtung, einem politisch-ideologischen Mißbrauch der Geschichte entgegenzutreten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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