Eine Rezension von Michael Dingel


„... und die Deutschen tragen eine besondere Verantwortung“

Ralph Hartmann: Die ehrlichen Makler

Die deutsche Außenpolitik und der Bürgerkrieg in Jugoslawien.
Eine Bilanz.

Dietz Verlag Berlin, Berlin 1998, 256 S.

 

Als der greise Präsident Jugoslawiens, der langjährige Vorsitzende des Bundes der Kommunisten, der legendäre Partisanenführer, Oberkommandierende und Marschall, Josip Broz Tito, im Mai 1980 zu Grabe getragen wurde, kondolierte die Welt. Hochrangige Politiker aus 121(!) Staaten verneigten sich vor der Bahre des bedeutenden Staatsmannes. Unter ihnen der sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breshnew, US-Vizepräsident Walter Mondale, Indiens Premier Indira Gandhi sowie der chinesische Parteivorsitzende Hua Guofeng. In der Säulenhalle des Parlaments in Belgrad standen nebeneinander der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker und der bundesdeutsche Präsident Karl Carstens. Dicht dahinter Bundeskanzler Helmut Schmidt und in der Nähe SPD-Vorsitzender Willy Brandt und die beiden deutschen Außenminister Oskar Fischer und Hans-Dietrich Genscher. US-Präsident Jimmy Carter schrieb: „Die Position von Staatspräsident Tito in der Geschichte unseres Zeitalters ist ein für allemal gesichert.“ Bundeskanzler Schmidt erklärte, Titos historisches Werk werde weit über seinen Tod hinaus wirksam bleiben; dank seines staatsmännischen Wirkens sei Jugoslawien heute ein geeintes, zu großen Leistungen fähiges Land. Die Worte fanden damals keinen Widerspruch, und doch begann nicht einmal ein Dutzend Jahre später der schreckliche Bürgerkrieg auf dem Balkan, der wie kein anderes außenpolitisches Thema die Berichterstattung der Medien beherrscht und die Europäer aufgewühlt hat.

Der Autor Ralph Hartmann hat einen Großteil seiner diplomatischen Laufbahn in Jugoslawien verbracht. Von 1968 bis 1972 als Presseattaché, 1977 bis 1981 als Botschaftsrat und von 1982 bis 1988 als Botschafter der DDR, zuletzt auch als Doyen des Belgrader CD. Nach Büchern wie Des Kanzlers rote Nachbarn. Aufzeichnungen eines Mitläufers (1995) sowie Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland (1997) hat er sich nun dem entsetzlichen Geschehen auf dem Balkan, das Europa in längst überwunden geglaubte Vergangenheit zurückzuwerfen droht, zugewandt. Er erweist sich als ein profunder Kenner der jugoslawischen Vergangenheit und Gegenwart mit einem hohen Allgemeinwissen, der fesselnd, anschaulich und treffend zu formulieren versteht.

Einen mehr oder weniger Außenstehenden hat die Eskalation der Gewalt auf dem Kriegsschauplatz unvorbereitet getroffen, mit Entsetzen erfüllt und hilflos „draußen“ gelassen. Die Konflikte, die plötzlich mit brachialer Kraft aufbrachen, sind allerdings in der Geschichte des Balkan und der südslawischen Völker in Jahrhunderten angelegt worden. Historikern, Politologen, auch ernsthaften Journalisten und natürlich Politikern sind sie nicht verborgen geblieben. Der Tod Titos hat ein Vakuum hinterlassen, das schließlich zu diesen tragischen Ereignissen führte. Und die Gefahr, daß sie eine Fortsetzung erfahren könnten, ist nicht beseitigt!

Die Achtung, die Tito in Ost und West gefunden hat, gründet sich auf seine unbestrittenen Verdienste, nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, in dem es auch zwischen den jugoslawischen Völkern zu furchtbaren Auseinandersetzungen gekommen war, den Vielvölkerstaat auf dem Weg von einem rückständigen Balkanland zu einem Industrie-Agrar-Staat geführt zu haben. Wenn man sich vergegenwärtigt, welches Konfliktpotential in europäischen Staaten existiert, in denen Minderheiten leben, ist das nicht hoch genug zu bewerten. Verwiesen sei auf Nordirland, die Basken in Spanien oder auch auf das zu Frankreich gehörende Korsika.

Im Mittelpunkt vorliegender Bilanz steht die deutsche Außenpolitik im jugoslawischen Bürgerkrieg. Auch hier ist ein Blick zurück vonnöten. Im Sommer 1878 fand unter dem Vorsitz des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck der Berliner Kongreß statt, der die Aufteilung des Osmanischen Reiches fortsetzte und u. a. die Unabhängigkeit Serbiens und Montenegros bestätigte sowie Österreich-Ungarn das Recht einräumte, Bosnien-Herzegowina militärisch zu besetzen. Über Bismarcks Rolle sind die Historiker zwar nicht einer Meinung, stimmen jedoch darin überein, daß er als „Vermittler“ mit außerordentlichem diplomatischen Geschick einen drohenden kriegerischen Konflikt zwischen allen damaligen Großmächten vermeiden half. Er sah sich als „ehrlichen Makler“, weil er öffentlich für keine Seite Partei ergriff. Der Außenminister des vereinten Deutschland Hans-Dietrich Genscher und sein Nachfolger Klaus Kinkel sehen sich auch in dieser Rolle - zu Unrecht! Serbien im Ersten und Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg standen Deutschland gegenüber. Die faschistische Okkupation des jugoslawischen Territoriums zeitigte diese Folgen: 1,7 Millionen Jugoslawen verloren ihr Leben, das Land erlitt gewaltige materielle Schäden und Zerstörungen. Schwer beschädigt oder völlig zerstört wurden 822237 Gebäude, 3,3 Millionen Bürger verloren das Dach über dem Kopf, ihr ganzes Hab und Gut. Vernichtet wurden 56 Prozent des landwirtschaftlichen Inventars, 2,5 Millionen Stück Großvieh, 24 Prozent der Weinberge. Zwei Fünftel aller Industrieanlagen wurden zerstört bzw. beschädigt, vernichtet wurden 57 Prozent der Eisenbahngleise, 80 Prozent der Lokomotiven, 90 Prozent der Waggons, 50 Prozent der Schiffe sowie eine Vielzahl von großen und kleinen Brücken. Viele Kulturdenkmale aus tausendjähriger wechselvoller Geschichte wurden zu Schutt und Scherben. Angesichts einer solchen unheilvollen Bilanz wäre von deutschen Politikern auch noch 45 Jahre nach dem Morden Mäßigung und Sensibilität zu erwarten gewesen. Statt dessen sah man wie gewohnt in den Serben das Böse und schlug sich ohne Not, aus egoistischem politischen Interesse auf die gegnerische Seite. Trotz vieler ernsthafter Warnungen machten sich Genscher und Co., mit Unterstützung einflußreicher SPD-Politiker, stark für eine schnelle Anerkennung der abtrün nigen jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien und brachten damit eine Lawine ins Rollen, die Zehntausende der Bosnier, Kroaten und Serben unter sich begrub. Lord Peter Carrington, früherer Außenminister Großbritanniens und Generalsekretär des Nordatlantikpaktes, wies darauf hin, daß eine frühzeitige Anerkennung den Abbruch der Friedenskonferenz bedeuten würde und „der Funke sein (könnte), der Bosnien-Herzegowina in Brand setzt“. Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Peréz Cuellar, zeigte sich „tief beunruhigt“. Und der damalige US-Außenminister Warren Christopher machte die Bundesrepublik für die Katastrophe in Bosnien-Herzegowina verantwortlich: „Es wurden beim gesamten Anerkennungsprozeß und vor allem bei der zu schnellen Anerkennung schwere Fehler gemacht, und die Deutschen tragen eine besondere Verantwortung dafür.“ Auch der ehemalige französische Außenminister Roland Dumas äußerte sich in diesem Sinne. Doch die deutschen Außenpolitiker korrigierten nie ihre eindeutig serbenfeindliche Politik und fanden in den Medien nahezu ausnahmslos Unterstützung. Der Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen, schilderte, wie „rücksichtslos, manchmal sogar skrupellos“ mit Informationen umgegangen wurde, an folgendem Beispiel: „Als im April 1995 in Zagreb plötzlich Raketen einschlugen und Zivilisten töteten, legte das Fernsehen - öffentlich-rechtlich wie kommerziell - unisono gegen die Serben los. Daß die kroatische Armee zuvor in Slawonien einmarschiert war, wurde erst im zweiten Teil der Berichterstattung mitgeteilt, und zwar eher anerkennend. Damit war wieder einmal überzeugend nachgewiesen, daß die ,mörderische Politik‘ der Serben an allem Elend im ehemaligen Jugoslawien schuld war und ist. Der Unterschied zwischen Fernsehwelt und Wirklichkeit konnte nicht größer sein, denn die Kroaten hatten durch ihren Einmarsch den Schlagabtausch nicht nur ausgelöst, sie hatten dabei auch durch Bombenangriffe auf Zivilisten und durch Massaker während der Kämpfe weit mehr Menschen getötet als die Serben. Doch diese Erkenntnisse wurden erst erheblich später bekannt und in den Zeitungen unter ,ferner liefen‘ gemeldet, ohne Bezug auf die ursprünglichen Desinformationen, die längst ihre Wirkung beim Publikum hinterlassen hatten.“

Der bekannte österreichische Schriftsteller Peter Handke forderte „Gerechtigkeit für Serbien“ in einem Text unter ebendieser Überschrift, tat kund, was er von Deutschland als „ehrlichem Makler“ hielt, und wurde mit schärfsten Angriffen der Medien „belohnt“. Schwarzweißmalerei führt zu derartigen Exzessen, so daß die Opfer auf den jeweiligen Bürgerkriegsseiten darüber zuweilen in den Schatten geraten. Die grauenvolle Phalanx der Verbrechen ist auf jeder Seite zu finden. Unmenschen wüten überall. Wer das nicht wahrhaben will, ist auf einem Auge blind.

Bei aller Verurteilung der katastrophalen Einmischungspolitik in die inneren Angelegenheiten des souveränen Jugoslawien weiß Ralph Hartmann, daß innere Gründe für seinen Zerfall verantwortlich zeichnen: Kein anderes europäisches Land wies in seiner Zusammensetzung eine solche Heterogenität auf; trotz großer Anstrengungen ist es nicht gelungen, die aus der Geschichte überkommenen beträchtlichen Entwicklungsunterschiede zu überwinden; trotz fortlaufender Bemühungen, periodisch wiederkehrender Verfassungsdiskussionen und darauf folgender Neufassungen und Ergänzungen des Grundgesetzes gelang es nicht, das gleichberechtigte Zusammenleben der jugoslawischen Völker in einem Bundesstaat verfassungsmäßig so abzusichern, daß die Gesamtinteressen der Föderation und die Einzelinteressen ihrer Glieder ausbalanciert werden konnten; 1990 läutete auch in Jugoslawien die Sterbeglocke für die allein herrschende kommunistische Partei; das Land konnte sich nicht dem Würgegriff internationaler Banken und später des Internationalen Währungsfonds entziehen; sein Zusammenbruch war Bestandteil des Niedergangs des Sozialismus in Ost-, Mittel- und Südosteuropa.

Konflikte und Faktoren also, die ein weiteres Bestehen dieser Föderation mehr als fraglich erscheinen lassen. Doch wie von seiten der ausländischen Protagonisten mit diesem „Pulverfaß“ umgegangen worden ist, ist unverantwortlich und hat unermeßliches Leid gebracht, das lange nachwirken wird. Und die Lunte brennt noch immer. Nicht nur Kosovo bezeugt dies!

Im Anhang findet der Leser eine Chronologie der Entstehung und des Zerfalls Jugoslawiens, die Anfang des 6. Jahrhunderts beginnt, und ein Personenverzeichnis. Tito findet er jedoch nicht. Ein ärgerlicher Druckfehler entstellt den Namen des bedeutendsten Bürgers Jugoslawiens.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite