Eine Rezension von Gerd-Rüdiger Stephan


Bonner Akten und Bonner Sichten auf die deutsche Einheit

Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90

Bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann.

R. Oldenbourg Verlag, München 1998, 1667 S.

 

Die Mitte 1998 herausgegebene voluminöse Edition von Bonner Regierungsakten zur deutschen Einheit sollte - so meinten auch einige Zeithistoriker - noch schlagkräftige Argumente für den Bundestagswahlkampf liefern. Schien es nicht geboten, die historischen Verdienste von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen Mitstreitern im Prozeß der staatlichen Einheit Deutschlands zu würdigen? Falls diese Überlegungen tatsächlich eine Rolle gespielt haben, so erbrachten sie jedenfalls keine positiven Resultate, man sehe sich nur das Wahlergebnis vom 27. September 1998 an. Allein der Anschaffungspreis des Bandes dürfte die Anzahl der Leser in bescheidenen Dimensionen gehalten haben.

In der Vorbemerkung wird allerdings darauf hingewiesen, daß der Bundesminister des Innern (damals Manfred Kanther) in Verbindung mit dem Bundeskanzleramt 1995 an die wissenschaftliche Leitung der Reihe „Dokumente zur Deutschlandpolitik“ herantrat und darauf hinwies, daß die Öffentlichkeit ein großes und berechtigtes Interesse habe, möglichst viele und wichtige Dokumente westdeutscher Provenienz aus dem Bestand des Bundesarchivs bereits vor Ablauf der regulären Sperrfrist für amtliches Archivgut kennenzulernen (sonst 30 Jahre). „Da die Wiederherstellung der staatlichen Einheit vor allem in Deutschland als eine tiefe Zäsur zu gelten hat“, heißt es, sei eine Ausnahme von den Vorschriften „erwünscht und berechtigt“. (S. 9) So wurde ein Sonderband in Angriff genommen und nach drei Jahren abgeschlossen, der eine Dokumentenauswahl präsentiert, die außenpolitische wie innerstaatliche Aspekte des Vereinigungsprozesses betreffen. Dabei handelt es sich um eine Fondsedition aus den Beständen des Bundeskanzleramtes.

Für die Veröffentlichung wurden insgesamt 430 Dokumente ausgewählt; von der Gesprächsaufzeichnung des Treffens zwischen Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Bush am 30. Mai 1989 in Bonn bis hin zu einer DDR-Regierungsnote an die Bundesregierung vom 29. September 1990. In der Vorbemerkung heißt es über Einschränkungen im Zusammenhang mit der archivalischen Freigabe: „Für eine geringe Anzahl von Dokumenten wurde damit, wie international üblich, die Auflage verbunden, auf den Abdruck persönlich gefärbter Bemerkungen über lebende Personen der Zeitgeschichte zu verzichten. Einige Dokumente des Bundeskanzleramtes und der Ressorts, in denen sich Feststellungen über bis heute maßgebliche Sachverhalte der deutschen Innen- und Außenpolitik finden, wurden nicht freigegeben. Auf einen Abdruck der vielschichtigen Materialien zur Vorgeschichte des Zehn-Punkte-Programms (von Kohl am 28. November 1989 dem Bundestag vorgetragen) mußte verzichtet werden.“ (S. 10) Akten des Auswärtigen Amtes blieben ebenso ausgespart wie Materialien des Kabinettsausschusses Deutsche Einheit.

Der Band stellt die erste und bisher einzige Edition westdeutscher Staatsakten zu den Ereignissen 1989/90 dar. Der wissenschaftlichen Leitung des Unternehmens ist zuzustimmen, wenn sie meint: „Die vorgelegte Auswahl (...) dokumentiert alle wesentlichen Phasen der Entwicklung und erweitert die Kenntnis über die zentralen Entscheidungen in vielen Punkten beträchtlich.“ (S. 10)

In einer platzbeschränkten Besprechung kann auf die Spezifik der Aktenbestände, auf die Auswahl- und Anordnungskriterien, auf die Textwiedergabe und textkritische Bearbeitung nicht detailliert eingegangen werden. Erwähnt werden muß die ungewöhnlich umfangreiche, Sachkenntnis bezeugende Einführung des Bearbeiters Hanns Jürgen Küsters. Dieser Text enthält allerdings zuweilen Bewertungen, die den gebotenen, einordnenden Rahmen verlassen. Dem Leser wird damit bereits eine mehr oder minder schlüssige Interpretation der vorgestellten Materialien angeboten, und es entsteht der Eindruck, die Dokumente selbst brauche man im einzelnen gar nicht mehr zu lesen.

Neben dem 220seitigen, engzeiligen Kommentar von Küsters liegen inzwischen vier weitere wissenschaftliche Abhandlungen vor, die auf der Auswertung der hier präsentierten Akten (freilich neben anderen Quellen) beruhen. Parallel zur Edition erhielten westdeutsche Sozialwissenschaftler die Möglichkeit, an einer vierbändigen „Geschichte der deutschen Einheit“ zu arbeiten. Bis Ende 1998 sind diese Bände von Karl-Rudolf Korte (Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft), Dieter Grosser (Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion), Wolfgang Jäger (Die Überwindung der Teilung) und Werner Weidenfeld (Außenpolitik für die deutsche Einheit) in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erschienen. Jedoch nur dieses politisch gern gesehene, zeithistorische Projekt erhielt bis zur Herausgabe der Sonderedition die Chance, die Quellen des Bundeskanzleramtes auszuwerten. Die übrige Forschungslandschaft mußte warten. Nachdem über 5000 Druckseiten der Öffentlichkeit vorliegen, dürfen die „restlichen“ Interessierten nach und nach die Quellen im Bundesarchiv Koblenz einsehen - freilich nur die veröffentlichten Unterlagen, und selbst diese nur in Form von Kopien.

Im folgenden sollen einige interessante Materialien hervorgehoben werden. Einen Ausgangspunkt bilden dabei die Verhandlungen zwischen den Regierungen in Bonn und Budapest im Spätsommer 1989. Präsentiert wird der Vermerk über das Geheimtreffen von Kohl und Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Nemeth und Außenminister Horn am 25. August 1989 auf Schloß Gymnich, welches das ausgeprägte Interesse Ungarns an westdeutschen Finanzhilfen dokumentiert (vgl. S. 379). In einem ebenfalls abgedruckten Gesprächsprotokoll von Bundeskanzleramtschef Seiters mit dem ungarischen Botschafter in Bonn, Horváth, am 19. September 1989 in Bonn (eine Woche nach der spektakulären ungarischen Grenzöffnung für die DDR-Ausreisewilligen) sprach letzterer erstmals Klartext: „Nunmehr durch ,Ungarn-Geschichte‘ Wiedervereinigung wieder auf die Tagesordnung gekommen. Wenn DDR ungarischem Reformweg folge, dann kein Hindernis mehr für Wiedervereinigung.“ (S. 406)

Den ergänzenden Aussagen Horváths auf einer Deutschlandforschertagung im saarländischen Otzenhausen im November 1998 zufolge faßten „die Reformer“ in der USAP-Führung bereits 1980 den Entschluß, konsequent auf ein marktwirtschaftliches System zuzusteuern, das den „Gulaschkommunismus“ ablösen sollte. Parteichef Kadar sei überzeugt worden, eine radikale Umwandlung des Wirtschaftssystems zu beginnen. Die in den Wirtschaftsapparat aufgenommenen Fachleute hätten sämtlichst an westlichen Universitäten studiert und nahmen umgehend Kurs auf eine ökonomische Liberalisierung, auf ein entsprechendes, den bundesrepublikanischen Erfahrungen entlehntes Gesetzeswerk und auf eine Umstrukturierung des Außenhandels weg vom Warenaustausch innerhalb des RGW. Nach dem Regierungswechsel in Bonn 1982 sei es - so Horváth - auch endlich gelungen, dafür finanzielle Unterstützung in Form zinsgünstiger Kredite zu bekommen. Von Anfang an sei für den Kern der USAP-Reformer klar gewesen, was am Endpunkt der Entwicklung stehen solle: der Systemwechsel. Als infolge des ungarischen Beitritts zur UNO-Menschenrechtskonvention 1988 im Frühjahr 1989 die Grenzanlagen zu Österreich abgerissen wurden, war auch die Sogwirkung für DDR-Bürger einkalkuliert.

Zu diesem Zeitpunkt benutzte in Bonn noch keiner den Begriff „Wiedervereinigung“. Erst am 24. Oktober 1989 (dem Tage der Wahl von Egon Krenz zum DDR-Staatsratsvorsitzenden) informierte der wichtigste westdeutsche Stratege, Ministerialdirektor und Kanzlerberater Teltschik, seinen Chef über Äußerungen in den USA. Präsident Bush teile nicht die Sorgen anderer hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands. Der demokratische Mehrheitsführer im US-Senat, Mitchell, habe die Wiedervereinigung gar als unvermeidlich bezeichnet (vgl. S. 467). Von besonderem Interesse erweist sich in diesem Zusammenhang ein Papier, welches der Mitarbeiter der Internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, Portugalow, am 21. November 1989 Teltschik inoffiziell in Bonn übergab. In dem bisher unveröffentlichten Material „SU und deutsche Frage“ wurde unter Bezug auf die Notwendigkeit der Sicherung friedlicher Beziehungen formuliert: „Für die SU heiße das, daß der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung Priorität haben müsse vor der Lösung der deutschen Frage, d. h. vor der Beantwortung der Frage nach den künftigen Formen der nationalen und staatlichen Existenz der Deutschen.“ Als „nichtamtliche“ Überlegung war zu lesen: „Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde, die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, dann wäre es vernünftig, öffentlich über die Vorstellungen der zukünftigen Allianzzugehörigkeit beider deutscher Staaten und über die Austrittsklausel der Pariser Verträge und des Römischen Vertrages im Wiedervereinigungsfall nachzudenken.“ (S. 618 f.)

Niemand unter den damaligen Verantwortlichen in der DDR hatte von diesen Überlegungen Kenntnis. Teltschik bereitete nun - angesichts der angedeuteten Optionen - zügig den 10-Punkte-Plan Kohls vor. Unmittelbar danach hagelte es noch Proteste aus Moskau, doch im Falle der Gruppierung im Kreml, die sich offenbar im Umfeld des sowjetischen Außenministers Schewardnadse zu einer Aufgabe der Bündnisverpflichtungen gegenüber der DDR durchrang, dürfte sich die Überraschung bereits in Grenzen gehalten haben.

Die Umstände des sowjetischen Kurswechsels konnten in dem vorliegenden Band nicht weiter dokumentiert werden. Dazu liegen inzwischen mehrere Zeitzeugenaussagen vor. Wie schwer es der Modrow-Regierung fiel, mit diesen Umorientierungen zurechtzukommen, belegen die ebenfalls bisher nicht bekannten Aufzeichnungen über die Gespräche zwischen Kohl und Modrow am 3. Februar 1990 im schweizerischen Davos und zwischen Kohl und Gorbatschow am 10. Februar 1990 in Moskau (S. 753 ff.; S. 795 ff.).

Während zu diesem Zeitpunkt der bundesdeutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in einem Schreiben an Kohl seine Besorgnis gegenüber einer baldigen Einführung einer Währungsunion mit der DDR artikulierte und eine Liste von Vorbehalten übermittelte (S. 778 ff.), beschrieb der Bundeskanzler dem amerikanischen Präsidenten Bush seine Prognose: „Was die Sowjets jetzt sagten, gehöre zum Verhandlungspoker. Am Ende werde die Frage nach Bargeld stehen. (S. 868)

Mitte Mai 1990 erfuhren Teltschik, Röller (Vorsitzender der Vereinigung der deutschen Banken) und Kopper (Vorstandssprecher der Deutschen Bank) die konkreten Vorstellungen im Kreml von Gorbatschow persönlich: 15 bis 20 Mrd. DM. Da hatten in der DDR die ersten freien Volkskammerwahlen stattgefunden, die eine Mehrheit für den schnellen Weg zur deutschen Einheit erbrachten. Um die äußeren Aspekte zu regeln, mußte der eingeleitete 2+4-Prozeß zum Abschluß gebracht werden. Am 22. Mai 1990 konnte Kohl in einem Brief an Gorbatschow die erste Bürgschaft der Bundesregierung über 5 Mrd. DM bestätigen (S.1136). Der sowjetische Partei- und Staatschef hatte auf seinem Gipfeltreffen mit Bush in den USA Ende Mai/Anfang Juni 1990 bereits die freie Wahl des Militärbündnisses zugestanden. Die Absprachen zwischen Kohl und Gorbatschow in Moskau und Archys am 15./16. Juli 1990 bestätigten - nach erfolgter Wiederwahl Gorbatschows auf dem 28. KPdSU-Parteitag - diese strategische Umorientierung.

Das Gespräch im kaukasischen Archys wurde hier erstmals dokumentiert, es artikulierte als Verhandlungsergebnis: volle Souveränität Deutschlands bei staatlicher Einheit; sowjetischer Truppenabzug; deutsche NATO-Mitgliedschaft (S. 1358). Gegenüber Bush kommentierte Kohl am 17. Juli 1990: „Das Interesse Gorbatschows gelte insbesondere der Sowjetunion. An seinen früheren Mitkämpfern aus der DDR sei er nicht interessiert.“ (S.1372) Diesen Eindruck konnte der Kremlchef nicht mehr korrigieren, selbst wenn er am 26. September 1990 in einem Schreiben an Kohl vor einer „Hexenjagd“ auf ehemalige Partei- und Staatsfunktionäre der DDR warnte (S. 1550 f.).

Unmittelbar vor dem erfolgreichen Abschluß des 2+4-Vertrages pokerte Gorbatschow mit Kohl um die endgültige Kreditsumme, die im Gegenzug für die Tolerierung der deutschen Einheit durch die UdSSR von Bonn an Moskau ausgereicht werden sollte. In einem Telefonat von Kohl und Gorbatschow am 7. September 1990 lagen die unterschiedlichen Vorstellungen noch bei 11 bzw. 18 Mrd. DM. Am 10. September ließ sich Gorbatschow auf ein Bonner Angebot von 15 Mrd. DM ein. Der 2+4-Vertrag wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet. Der deutschen Einheit stand nichts mehr im Wege.

Das Telefonat vom 10. September 1990 wurde übrigens in der Edition nicht veröffentlicht; auch andere Materialien blieben ausgespart: Es fehlen u. a. Lageeinschätzungen aus dem Frühherbst 1989, Hinweise auf das bundesdeutsche Engagement im DDR-Volkskammerwahlkampf und jegliche Vermerke über die zahlreichen Treffen zwischen Kohl und DDR-Ministerpräsident de Maizière ab April 1990. Da bleiben Fragen offen, ebenso wie durch bisher nicht vorliegende Akten aus den Auswärtigen Ämtern der DDR und der Bundesrepublik sowie aus den Archiven in Moskau und Washington.

Die Einführung von Küsters schließt übrigens mit einem Resümee unter dem Titel „Wiedervereinigung - ein Zufall der Geschichte?“ Neben allem Geschick der Bonner Regierung wird darin die Schlüsselrolle Gorbatschow zugeordnet: „Er kann den Deutschen die Wiedervereinigung anbieten, die Westmächte vermögen dies nicht.“ (S. 233)

Über diese Einschätzung hinaus dürfte für die Forschung einiges zu tun bleiben, um die Hintergründe und Zusammenhänge der deutschen Einheit sowohl komplex wie differenziert auszuloten. Die Folgen der Entwicklung von 1989/90 betreffen heute als „Vereinigungskrise“ nahezu alle Bürger im vereinigten Deutschland sehr persönlich, auch wenn der „Kanzler der Einheit“ inzwischen seine Regierungsverantwortung abgeben mußte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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