Eine Rezension von Friedrich Schimmel


„Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben“

Urs Bircher: Vom langsamen Wachsen eines Zorns
Max Frisch - 1911-1955.

Unter Mitarbeit von Kathrin Straub.

Limmat Verlag, Zürich 1997, 287 S.

 

Max Frisch (1911-1991) war der letzte große Schweizer Erzähler von weltweiter Ausstrahlung. Sein Leben lang hatte er nicht nur mit seinen Büchern, wovon der Stiller (1954) sein wichtigstes ist, für Aufsehen gesorgt, auch der Publizist und Architekt Frisch hatte die Gemüter in der Schweiz und in Europa erregt, bisweilen sogar erhitzt. Von dieser Erhitzung berichtet Urs Bircher in diesem Buch. Er zeigt die Wege des kritischen Max Frisch, lange Zeit Leitfigur der Schweizer Linken und ein Ärgernis der offiziellen Schweiz, die ihn vier Jahrzehnte lang polizeilich bespitzeln ließ. Seine frühen Prosaversuche waren brav, heimatverbunden und noch apolitisch. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kommt der Umschwung in Frischs Denken und Schreiben. Dabei machte er eine sehr folgenreiche Entdeckung. Was auch anderen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts widerfahren war oder noch widerfahren sollte, die Entdeckung des eigenen Ichs in einer schamlos auseinanderbrechenden Welt, wurde zum literaturstiftenden Ereignis. Hatte er, noch jung an Jahren und als naiver Journalist, geglaubt, „letzten Endes, wenn wir ehrlich sind, können wir nur von uns selbst aussagen“, war er zwei Jahrzehnte später im Roman Stiller ganz anderer Ansicht: „Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.“

Urs Bircher hat intensiv recherchiert. Er hat das Material, darunter Briefe, die bisher unveröffentlicht waren, analysiert und ist zu neuen Erfahrungen im Denk- und Schreibprozeß bei Max Frisch gekommen. Er las die Texte Frischs aus den frühen Jahren „in erster Linie vor ihrem historisch-biographischen Hintergrund auf ihre Erfahrungsmuster hin“, seine Frage war immer: „Warum schrieb Frisch in dieser Situation diesen Text in dieser Form?“ Ein guter Ansatz, aber auch ein pikanter. Freilich kam dem Autor sehr entgegen, daß Frisch in vielen seiner Texte sich immer wieder selbst fragte, warum dies und warum gerade so und nicht anders. „Literatur als Probehandeln“ meint Bircher, aber Literatur probiert doch immer. Und wer ist denn dazu besser geeignet als der Autor selber. Max Frisch, der einst viel Gelesene, ist zwar nicht aus den öffentlichen und privaten Bibliotheken verschwunden, doch im Buchhandel spielt er eine kärgliche Rolle, nämlich die eines jüngeren Klassikers unter den vielen älteren. Frischs großer Schweizer Kollege, Friedrich Dürrenmatt, meinte einmal spöttisch: „Frisch fasziniert die Intellektuellen.“ Und er reichte die Gründe auch gleich nach: „Sie finden bei ihm die Schwierigkeiten dargestellt, die sie auch haben, oder glauben, haben zu müssen.“

Es gibt genügend Literatur auch über Max Frisch. Dennoch nennt Urs Bircher Gründe für sein neues Buch. Dem noch, bis hin zu Frischs Lebensende, zwei weitere folgen sollen. Zuerst einmal gibt es keine umfangreiche, auch die vielen Neben- und Versuchsfährten des Autors Frisch darstellende Biographie. Zweitens leben noch Zeitgenossen, deren Erinnerungen so wichtig sind, daß Bircher sie festhalten will. Und drittens will er, stärker noch, als es bisher durchleuchtet worden ist, das linke Element im Werk Frischs vermitteln. Er meint: „Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Tod Frischs wünschten manche ihn endgültig auf den Müll der Geschichte. Ihrem Wunsch soll mit diesem Buch widersprochen werden.“

Die Wurzeln zu allem liegen in der Kindheit. Vom Vater Frischs gibt es zu berichten: „Von meiner Seite eine Gefühlslücke.“ Das Bild der Mutter ist hingegen stilisiert, „eine Art Ikone“. Zwei Erfahrungen, zwei Bilder, aus denen etwas zu machen war. Inwieweit dies geschah, wird von Urs Bircher aber nicht näher ausgeführt. Das wäre Stoff für eine ganz andere Arbeit. Bircher sammelt und versammelt Belege für Frischs unermüdliches Suchen und Feilen an Ansichten und Techniken innerhalb literarischer oder essayistischer Texte. „Wahres, wildes Leben versus Konvention und unerfüllte Sehnsucht“ nennt er Frischs zentrales Thema, das er Stück für Stück (wenn von den dramatischen Arbeiten die Rede ist) abarbeitet.

Dieses Buch macht wie vermutlich vordem noch keine Arbeit über Max Frisch nachvollziehbar, was der kritische, zornige junge Mann in seiner Schweiz alles zu erdulden hatte. Es wird verständlich, daß in der Schweiz vielfach ganz anders gedacht wurde und noch wird als im übrigen Europa. Diese Widerborstigkeit gegen jede Art Neuerung war aber zugleich ein Stachel für den Autor Frisch, eine ewige Herausforderung. Und ein Anlaß für wechselvolle, allmählich immer besser werdende Prosa. Doch es waren nicht nur die Schweizer Landsleute, an denen sich Frisch rieb. Auch Brecht, den er durchaus schätzte und der nach seiner Rückkehr aus Amerika ja in Zürich kurze Zeit Station machte, bekam sein Fett ab. Brecht war für ihn ein großer, aber ein „äußerst unangenehmer Dichter“. Und das war positiv gemeint, denn er zwänge seine Bewunderer, die Welt zu erkennen und zu verändern. Für Frisch ging dieses Programm nie auf. Er ging eigene Wege, hier von Urs Bircher glänzend nachgezeichnet. Dieses Buch endet mit dem Jahr 1955. Der Stiller ist schon erschienen, Frisch sitzt am Homo faber. Doch darüber soll das nächste Buch berichten, das mit Spannung erwartet wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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