Eine Rezension von Volker Strebel


Bericht aus dem großen Wartesaal

Dumitru Tsepeneag: Hotel Europa

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 446 S.

 

Während hierzulande die Literaturkritiker wortreich den großen Wenderoman herbeisehnen, hat Dumitru Tsepeneag 1996 in Paris und Bukarest sein Hotel Europa vorgelegt. Es ist eine höchst unterhaltsame Mischung aus Fiktion, Reflexion und politisch-gesellschaftlicher Hintergrundbeschreibung, noch dazu in einer vorzüglichen Übersetzung von Ernest Wichner, der einstmals dem deutschsprachigen Banater Schriftstellerkreis angehört hatte.

Dem notorischen Pendler zwischen Bukarest und Paris, Dumitru Tsepeneag, hatten die rumänischen Behörden 1975 die Staatsbürgerschaft entzogen, verständlich also, daß er im „Hotel Europa“ - oder, wie er an anderer Stelle formuliert hatte, in der „großen Streubüchse Ost-West“ zu Hause ist.

Es war eine Option des untergegangenen „realen Sozialismus“, die widersinniger Weise auch im Westen in Erfüllung ging: Die Teilung des europäischen Bewußtseins und der Verlust dessen geschichtlicher Erinnerung. Als an der Jahreswende 1989/1990 das sozialistische Lager wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, war auch Westeuropa veranlaßt, neu nachzudenken. In diesem Umbruch beginnt auch der vorliegende Roman. Ein exilierter rumänischer Schriftsteller fährt mit einem Hilfstransport in seine Heimat zurück. Stationen der Ungewißheit und befürchteter Willkür begleiten den Weg. Zeit der Wende und der Revolution. Aber sind die großen Volksaufläufe in der Hauptstadt Bukarest und im nordrumänischen Timisoara, auf ungarisch Temesvar und auf deutsch Temeschburg, Hinweise auf eine echte politische Revolution? Der Exilschriftsteller diskutiert auch diese Frage mit einigen jungen Rumänen, die er in Temesvar kennenlernt. Es geistert das Wort von der „beschlagnahmten Revolution“ herum, welche zwar mit Hilfe des Volkes den „Zwerg“, also den verhaßten Diktator Ceausescu, gestürzt hatte, um sich anschließend die Macht von den im Hintergrund abwartenden alten Seilschaften aus den Händen reißen zu lassen.

Die Handvoll junger Leute in Rumänien beginnt jetzt vor den Augen des Lesers an Leben zu gewinnen. Der Exilschriftsteller spielt deren mögliche Rollen auf Papier durch. Und doch gewinnen sie Zug um Zug an Fleisch und Blut, bis der Autor deren Entwicklung nicht mehr gestaltet, sondern sich lediglich auf das Amt eines Chronisten verlegt. Eigentlich hatte er einen Roman schreiben wollen, aber sowohl seine französische Frau Marianne, der gemeinsame Siamkater als auch die Figuren aus der rumänischen Realität durchkreuzen sein Vorhaben immer wieder und stellen paradoxerweise gleichzeitig die Garanten seiner Unternehmung dar.

Ion, auf der Suche nach seiner Freundin Maria, die in den Revolutionswirren verschwunden war, durchstreift - über Budapest, Wien, München, Straßburg und Paris - das für ihn bisher verschlossene Europa. Er gerät dabei in die sich rasch etablierenden Milieus der Korruption, Prostitution und anderer Kleinkriminalität. Eine schillernde Wirklichkeit des neuen Europa garantiert, daß des Autors Wechselspiel zwischen Phantasie und Wirklichkeit spannend und lebensecht gerät, auch wenn Ehefrau Marianne das anders sieht: „Ausgerechnet du redest von der Wirklichkeit! Bei all dem, was du schreibst, hast du noch die Unverschämtheit, von Wirklichkeit zu reden. Als wüßtest du, was das ist ...“ Hier wird keine artifizielle Spielerei exerziert, sondern ein packender Sog erzeugt, der nicht zuletzt den Leser selbst zu verschlingen droht. Tsepeneag versteht sein Handwerk, und als überzeugter Rumäne reklamiert er für sich ein Spiel der Sinnlichkeit und des Klamauks ohne Rücksicht auf irgendwelche Abgründe. Leben ohne Netz, aber mit doppeltem Boden! Ion schlägt sich recht und schlecht durch auf seiner Suche. In Budapest trifft er Szusza und in München Hilde, ein bißchen Ungarisch hier, ein bißchen Deutsch oder Französisch dort - Ion als Angehöriger eines Außenseiterlandes versteht sich anzupassen im Wartesaal Europa.

Zum Grand Finale kommt es schließlich vor dem bretonischen Haus des Exilschriftstellers, wohin er sich zum Schreiben zurückgezogen hatte. Hier finden sich die Figuren ein mit ihren unterschiedlichsten Wünschen und Vorstellungen. Doch der Autor bittet um Aufschub, schließlich muß er noch weitergestalten, das Ende vorbereiten: „Ich halte einen Augenblick lang inne, versichere mich, daß Ana immer noch am Fenster steht, der Kater an ihrer Seite, und bewege dann meine rechte Hand, so schnell ich kann, über das Papier, dabei schüttle ich den Kopf, nein, hier bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob das gut ist, irgendwie anders muß ich es machen, also streiche ich aus, schreibe ein Wort an die Stelle eines anderen darüber, bin immer noch nicht zufrieden, streiche auch das durch, in schreibe viel zu langsam, sehr viel langsamer, als Ions Rederhythmus dies vorgibt ...“

Hotel Europa erzählt vom Leben im Wartesaal. Burlesk und niemals weinerlich, schließlich wäre einzig der Tod die Alternative zum Leben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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