Eine Rezension von Hans-Rainer John


Terror, Blut und Tränen in den Anden

Nicholas Shakespeare: Der Obrist und die Tänzerin

Roman. Deutsch von Werner Richter.

Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 384 S.

 

Wer spannende Lektüre und zugleich authentische Informationen über Südamerika sucht, dem seien zwei Bücher empfohlen: Nachrichten von einer Entführung von Gabriel Garcia Marquez und Nicholas Shakespeares Der Obrist und die Tänzerin. Beide machen die ambivalente und explosive Situation der dortigen Länder erlebbar, beide erzählen von Terror, Gewalt und Korruption, von gefährdeter Demokratie, Drogenkartellen, Guerillabewegungen und Volksaufständen. Marquez (1996) bediente sich dazu der Reportage und berichtet von einer erpresserischen Entführung in Kolumbien, von den Lebensbedingungen der zehn Leute während der halbjährigen Geiselhaft, von den Bemühungen ihrer Angehörigen und der Öffentlichkeit, sie zu befreien, von der Taktik des Drogenkartells und der Moral seiner Helfershelfer („ Öffentlichkeit nach seiner Gefangennahme in einem eisernen Käfig präsentiert wurde.

Shakespeare bedient sich einer Rahmenhandlung, in der der englische Südamerika-Korrespondent John Dyer auf den im brasilianischen Exil weilenden Agustin Rejas, ehemals Undercover-Agent und Polizeioberst, stößt, der Ezequiel nach langen Jahren der intensiven Recherche gefangennahm und der dafür zum Volkshelden und Kandidaten für den Präsidenten-Sessel aufstieg. Der Fall wurde ihm freilich bald entzogen, er selbst auf eine unbedeutende und gut kontrollierbare Stelle abgeschoben, weil er mächtige Feinde hatte. Die hatte er sich geschaffen, als er den Befehl verweigerte, Ezequiel sofort dem Geheimdienstchef zur unauffälligen Hinrichtung auszuliefern. Im Bestreben, einen rechtsgemäßen Prozeß zu ermöglichen, hatte er den Gefangenen sofort der Presse vorgeführt. Das war ihm nicht verziehen worden.

Dyer stößt auf einen gebrochenen Menschen, der sich zwanzig Jahre lang im Dienste von Recht, Ordnung und Sicherheit abgemüht hat und am Ende erkennt, daß die Institutionen, die er vertrat - Staat, Polizei, Armee - genauso menschenverachtend und gewalttätig waren, wie die Terroristen und Aufständischen, gegen die er ermittelte und einschritt. Blut und Tränen, Folter und Tod - verursacht von beiden Seiten - und dazwischen die einfachen Leute - Bauern, Händler und Handwerker - als hilflose, erbarmungswürdige und geschundene Opfer unvorstellbarer Grausamkeiten, inzwischen aber auch selbst zu Greueltaten fähig geworden. Eine Spirale der Gewalt, die mit der Gefangennahme von Ezequiel nur zeitweise zurückgedreht werden kann.

Rejas fahndet durchs ganze Land, begegnet vielen Menschen, bis der Terrorist sein Operationsgebiet in die Hauptstadt selbst verlegt und die Regierung äußerst nervös wird. Die Suche wird immer fieberhafter, während jede Nacht Bomben explodieren, Minister gekillt werden, das Land im Terror versinkt. Und da verliebt sich der Oberst, selbst recht unglücklich verheiratet (nur die Existenz einer Tochter hält die Ehe zusammen), auch noch Hals über Kopf in die 14 Jahre jüngere Tänzerin Yolanda Celandin, die seiner Tochter Laura Ballett-Unterricht erteilt. Er erliegt dem jugendlichen Charme dieser Frau, umgibt sie mit seinem Vertrauen, seiner Fürsorge, und muß im entscheidenden Moment seiner Operation gegen Ezequiel unerwartet feststellen, daß sie es ist, die dem Terroristen Zuflucht und geheimes Obdach gewährt und sich nun trotzig zu seinen Mitwissern und Anhängern bekennt. Natürlich teilt sie auch sein Schicksal - lebenslange Haft in fensterlosem, dunklem Kerker, aber Oberst Rejas kann sich, tief betroffen, von der Erinnerung an sie nicht befreien.

Mit der „Lebensbeichte“ will er Dyer bewegen, zwischen ihm und seinem Staat zu vermitteln: Er sei bereit, auf jede politische Tätigkeit zu verzichten, sofern Yolanda, an deren Händen ja kein Blut klebe, in absehbarer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt werde. Dyer setzt den Deal in Gang, ob mit Erfolg, erfährt der Leser nicht. Dyer verliert die Sache selbst aus den Augen, da er ein Buch über die Amazonas-Indianer schreibt. Als er bei Kapitel 17 angekommen ist, erreicht ihn eine Postkarte. Rejas teilt mit, er steht vor der Ernennung zum Minister und Ezequiel habe eine Erklärung unterzeichnet, wonach er sich mit der jetzigen Politik der Regierung einverstanden erkläre. Über Yolanda kein Wort.

Dieser Schluß ist schwach. Er unterbietet alle Erwartungen, die man gerechterweise hegen mag. Im übrigen aber ist das Buch des 41jährigen englischen Autors, der Literatur studierte, als Journalist arbeitete, heute in London als Schriftsteller lebt und hier bereits seinen dritten Roman vorlegt, rühmenswert. Als Sohn eines Diplomaten hat Shakespeare annähernd zwanzig Jahre in Asien und Lateinamerika verbracht - die Kenntnisse schlagen nun gut zu Buche. Beobachtungsgabe, Einfühlungsvermögen, Stilsicherheit kommen noch hinzu, ferner Fähigkeit zur kunstvollen Komposition und sprachliche Perfektion. Keine Kolportage und eine Liebesbeziehung, die glaubhaft, nachvollziehbar und weder süßlich noch kitschig ist.

So ist ein Buch entstanden, das für sich einnimmt. Kündend von Schrecken und Gewalt, von Sehnsucht und Leidenschaft, ist es Ergebnis einer kruden Wirklichkeit, die auch die Phantasie eines Romanschriftstellers noch übertrifft. „Mir fällt kein anderer ausländischer Schriftsteller ein, der sich mit vergleichbarer Neugier und ebenso sicherem Instinkt ins Labyrinth der Politik meines Landes gewagt und sich dabei so gut geschlagen hätte“, urteilte Mario Vargas Llosa, und der muß es wahrlich wissen.

Vergleicht man freilich Shakespeares Buch mit dem von Marquez, so wird man die soziale Unschärfe bedauern, in der die wichtige Figur des Presidente Ezequiel belassen wurde. In der Nachricht von einer Entführung hatte Don Escobar nämlich ein klares Profil: Er war der Boß einer Drogenmafia, es ging ihm um Geld; er herrschte durch Terror, kaufte sich seine Mitarbeiter, setzte aber Gewinne auch ein für soziale Projekte, mit denen er sich die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung erwarb, vor allem der Ärmsten. Bei Shakespeares Philosophie-Professor Ezequiel dagegen bleibt alles offen; was für ein Programm verfolgt er, geht es um Geld, um Macht, um Ideologie, um Staatsumsturz oder um Terrorismus an sich? Was bindet seine Mitstreiter an ihn, wie ist er bei seiner autistischen Daseinsweise in der Bevölkerung verwurzelt, auf welche Unterstützung kann er zählen, mit welchem Widerstand muß er rechnen? Da ist nur mal von Mao Tse-Tung die Rede und von Immanuel Kant, und Yolandas Hinwendung zur Politik soll eine Kuba-Reise bewirkt haben. Aus Kuba aber kam nur Che Guevara und nicht Pol Pot.

Das alles bleibt im Nebel, weil der Autor nur die Sicht von Agustin Rejas wiedergibt, die Strategie der Gegenseite und den ökonomischen Hintergrund, die Lebenslage der Massen aber vernachlässigt. Das gilt auch für die Psyche und die Beweggründe Yolandas. Ob sie Rejas durchschaut hat und welchen Stellenwert sie Liebe, Kunst und Politik beimißt, bleibt völlig offen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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