Eine Rezension von Sebastian Kiefer


Seelenverwandtschaften

W. G. Sebald: Logis in einem Landhaus

Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere.

Carl Hanser Verlag, München 1998, S. 192

 

1993, „in einem Zustand gänzlicher Unbeweglichkeit“, wurde W. G. Sebald ins Spital von Norwich eingeliefert. 1970 hatte die kleine Provinzhauptstadt dem unlängst examinierten Germanisten, der, Deutschlands müde, in der französischen Schweiz Zuflucht gesucht hatte, eine kleine Dozentur angetragen und sorgte fortan für die äußere Existenz. Und nun, im kahlen, klinisch reinen Kubus des achten Klinikstockwerks, überfiel ihn sogleich das beklemmende Gefühl, „die in Suffolk im Vorsommer durchwanderten Weiten seien nun endgültig zusammengeschrumpft auf einen einzigen blinden und tauben Punkt“. Er konnte nicht anders, griff wieder zum Stift, um nur ja das gemütsbelebende Element jener Ferientage zu bewahren. Ans Krankenlager gebannt, beginnt für den Dichter die eigentliche Wanderung, die auf dem Papier, den Fäden der Erinnerung entlang. Noch einmal durchstreift er, was sich subkutan an Geschichte zwischen den Hügeln des ostenglischen Küstenstreifens abgelagert hat. Ganz auf das Abseitige, Verfallene, Entwurzelte und Exzentrische geeicht, ist die Wünschelrute des großen, melancholischen Sammlers Sebald: Seine Schlösser sind vom Zahn der Zeit gebrandmarkte Zeugen abgelebter Pracht, in denen die Herrschaften weggestorben sind und die Dienerschaft wie Mäuse das abbröckelnde Gemäuer bevölkert, Lakaien, deren Gedächtnis nur mehr wenig weiß von aristokratischen Tafelfreuden und edlem Kunstgenuß, sehr viel dage gen von den über ihren Köpfen in den Krieg ziehenden Bombengeschwadern. Die Küstenpromenaden sind verdunkelt, der gefangene Fisch durchseucht; das versprengte Häuflein zurückgebliebener Bewohner, mögen sie in der Jugend brave Leute, tüchtige Männer oder gar Helden gewesen sein, besteht aus Sonderlingen, Vertriebenen, der Welt verlorengegangenen Eigenbrötlern, Schalentieren in Menschengestalt. Wo immer Sebald seine Schritte anhält und ein Lot in die Geschichte senkt, es bringt Gewalt, Vergeblichkeit oder, im besten Falle, Kauzigkeiten zutage. Kunst, große Kunst, wird aus dem finsteren Aroma, das den Poren der Erde entströmt, sobald Sebald sie ansticht, weil er einer Beobachtungssprache mächtig ist, die, aller Moden abhold, präzise, plastisch und modulationsfähig ist wie kaum eine zweite. Das machte aus Sebalds Die Ringe des Saturn ein literarisches Ereignis, ohne Breitenwirkung, doch für eine schmale Schar von Bewunderern nur um so nachdrücklicher.

Ein Wanderer, den das unbemerkte, poetische oder abgründige Detail am gesicherten Weg interessiert, bleibt Sebald auch, wenn er Literaten porträtiert. Er nimmt den Leser bei der Hand und führt ihm die Nischen, Sprünge und Abgründe von Landschaften vor, die der Leser nur allzu gerne im Großformat übergeht, lädt unerwartet zum Verweilen, lehrt genauer sehen, riechen und hören. Jeder Weg beginnt bei einem Punkt, an dem sich Sebalds Weg mit dem eines seelenverwandten Artgenossen traf, schweift ab, verliert sich und kehrt ein mit einem Ausblick auf das Ganze eines Lebens. In einem jetzt erschienenen dritten Band mit Literaten-Porträts ist es Sebalds Großvater, der an der Schwelle einer solchen Landschaft steht. Dieser Ahn nämlich trug „die Namensfeste seiner Anverwandten und Freunde, den ersten Frost, den ersten Schneefall, den Einbruch des Föhns, Gewitter, Hagelschlag und ähnliches mehr mit dem Tintenblei [...] sowie, auf den Notizseiten, gelegentlich auch ein Rezept zur Herstellung von Wermuth oder Enzianschnaps“ in einen „Kempter Calender“. Den gibt es, in den Grundzügen, seit 1773, und so kam Sebald, noch bevor er zum Leser geworden war, mit Johann Peter Hebel in Berührung, verdanken doch dessen nachmals berühmte „Kalendergeschichten“ ihren Namen dem Erscheinen in ebenjenem Hauskalendarium. Hebels „Idee von einer im Gleichgewicht gehaltenen Welt“ ist für Sebald, aufgewachsen in einer allgäuischen Kleinstadt, nicht fern der Heimat Hebels, keine Idee, sondern eine Erfahrung: Den beerenlesenden, ackerbauenden, heuerntenden Menschen seiner kindheitlichen Landschaft konnte er noch selbst ablesen. Hebels „innere Sicherheit“ jedoch, das seelische Fundament jener Idee, dürfen wir nicht als naturwüchsig mißverstehen - es gibt sie, so laut Sebald, nur in und durch Literatur. Die Festigkeit seiner inneren Zentrierung gewinnt Hebel „weniger aus dem, was er weiß von der Natur der Dinge, als aus der Anschauung dessen, was über jeden Verstand geht“, und diese Fähigkeit zur Ahnung bringt den großen Autor hervor. Für Sebald zeigt sich Hebel daher am reinsten in jenen Geschichten, die den Beobachtungsstandpunkt in den Kosmos verlegen, und in Hebels Fußnoten zum 1811 erschienenen Kometen erblickt er das reinste Selbstbildnis des größten Dichters alemannischer Zunge. Er, der einzige (deutsche) Mundartdichter, der Literaturgeschichte geschrieben hat, ist also nachgerade das Gegenteil eines „Heimatdichters“: Hebel ist der Schöpfer einer hochartifiziellen Sicht auf die Welt. Ermöglicht wird sie durch eine ausgefeilte Kunstsprache. Sie „bedient sich dialektaler und demodierter Wendungen und Strukturen immer nur dort, wo es der prosodische Rhythmus erfordert, und fungierte wohl zu seiner Zeit schon eher als ein Element der Verfremdung, denn als Ausweis der Stammeszugehörigkeit“.

Das ist der Punkt, an dem die eigentliche Kunst des Hebel-Bewunderers Sebald anhebt: Er gibt eine Skizze des taghellen Sprachartisten Hebel, die seinesgleichen sucht, um gleich dar auf den Leser mit den Nachtseiten des virtuos kontrollierten Bewußtseins bekannt zu machen, den „surrealen Traumwelten“, die aus der Kunst des großen Kalenderdichters nicht wegzudenken sind. Sie sind der Preis dafür, daß die Literatur an der Idee einer im Gleichgewicht befindlichen Welt festhält, obwohl gerade ringsherum „die letzten Reste des heilsgeschichtlichen Weltbildes zerschlagen wurden, während zugleich in endlosen Revolutionen und Kriegen die profane Geschichte gewaltsam sich auszubreiten begann“. Weil er derart quer zur politischen Geschichte steht, kann Hebel nicht, wie noch Walter Benjamin meinte, ein messianischer Anhänger der Französischen Revolution gewesen sein. Vor einer aus den (heilsgeschichtlichen) Fugen geratenen Welt flüchtete er, um seine Idee vom Gleichgewicht zu retten, in rückwärtsgewandte Ideale: Wie die Physiokraten träumte er „von einem Land, welches einem blühenden Garten glich“, in dem ein jeder sein eigen Feld bestellt mit eigener Hände Arbeit. Und er liebäugelte, gegen den heraufziehenden Unternehmergeist, mit dem jahrhundertealten Schema eines guten und gerechten Patriarchen an der Spitze der Sozietät, die alles ins Lot bringen werde. (So tief verankert war diese Sehnsucht in Hebel, dem Verächter aller kriegerischen Taten, daß selbst Napoleon kein Kriegsherr und Eroberer war, sondern ein menschenfreundlicher Patriarch.)

So gelassen Sebald ein solches Porträt vor uns ausbreitet, so gewagt seine kurzen Wege von der Sprachgeste zur Welthistorie, vom Charakterbild zur Politik der Epoche sind, es fügt sich wie von alleine zu einem plastischen Bild - eine bekannte Landschaft in neuer Ansicht, und eine jede ist mit allen anderen, wie in Hebels geschlossenem Literaturweltbild, unterirdisch verknüpft. Hebels Ideal-Komet steht Seite an Seite mit Robert Walsers Ideal der Überwindung von Gravitation, Gottfried Keller mitten zwischen Kleist, Walser und allen anderen an der Welt irre oder schwermütig Gewordenen: Sebald findet in einer antiquarisch ergatterten Biographie Gottfried Kellers, „die mit einiger Gewißheit aus dem Nachlaß eines aus Deutschland vertriebenen Juden stammte, eine schöne Sepia-Fotografie von dem ganz von Buschen und Bäumen umstandenen Haus auf der Aare-Insel [...], in dem Kleist im Frühjahr 1802 an dem Wahnsinnsdrama der ,Familie Ghonorez‘ schrieb, ehe er, selber krank, nach Bern gehen mußte in die Pflege des Dr. Wyttenbach“.

Auf einer schweizerischen Seeninsel hatte, einige Jahrzehnte zuvor, nach einem Jahrzehnt der manischen Produktion Jean Jacques Rousseau für einige Monate Zuflucht gefunden, bis ihn, den ebenso Geächteten wie Berühmten, der Berner Rat förmlich davonjagte. Sebald pilgerte, als er zur Fortsetzung seines Studiums in die französische Schweiz wechselte, zur St.-Petersinsel wie einst die Heerscharen posthumer Verehrer, und fängt ein halbes Menschenalter später, als er selbst ein „Ausgewanderter“ und Inselflüchtiger geworden ist und das Kräftefeld von Schreibzwang und Verfolgungswahn, Anbetung und Ausgrenzung sein Lebensthema, Rousseaus kurzes Inselglück in dreißig luziden Seiten ein.

Rousseau trieb es nach Biel - und dort machte Robert Walser Station, der umherirrende, vom Schreibzwang und den Erynnien einer verwickelt schiefgelaufenen Kindheit getrieben. Und Sebald wiederum ist an diesen der Welt verlorenen Walser zeitlebens gekettet wie mit seiner eigenen Kindheit. Gegenwart und Vergangenheit sind eng verschlungen und spinnen den Wanderer ein: Episoden des Räuberromans Walsers sind ihm unvergeßlich, weil sie den Geschichten aufs Haar glichen, die einst die der Literatur ganz unkundige „Tante Fini“ aus dem Leben des Großvaters zum besten gab. Jenes Großvaters Ambros, der im selben Jahr wie Robert Walser starb, bei seinem schreibenden Enkel eine sich nie schließende Wunde hinterließ und dessen Physiognomie zuletzt dem halb jecken, halb glücklichen Anstaltsinsas sen Walser immer ähnlicher geworden war. So ist Sebalds Hommage an Robert Walser, der längste und gewichtigste Text seines neuen Sammelbandes, ein klein wenig auch ein später Trauergesang für den unbekannten Bauern Ambros aus dem Allgäu. Es findet sich darin eine bezaubernde Apologie der „einzigartigen Überdrehtheit“ des späten Walser mit seinen „Sprachbrikolagen“, die allen gängigen Vorstellungen vom guten Stil ins Gesicht schlagen. Er ist eine Liebeserklärung an „die fast manische Geschwätzigkeit, [...] deren Walser sich befleißigt, weil er befürchtet, zu geschwind fertig zu werden, wenn er, seiner Neigung gemäß, nichts als eine schön geschwungene Linie ohne Seitenzweige und Blüten aufs Blatt brächte. Tatsächlich ist der Umschweif für Walser eine Überlebensfrage.“

Der Walser-Text ist zugleich die anspruchsvollste Ausführung jener in den Eingangsseiten des Bandes entworfenen Vorstellung vom Schreiben als einer „sonderbaren Verhaltensstörung, die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muß und mit erstaunlicher Präzision vorbeizielt am Leben“. Das ist nur auf den ersten Blick ein provozierend offenes Selbstbekenntnis - in Wahrheit verdeckt es nicht weniger als es offenbart, denn Schreiben ist natürlich nicht selbst die Krankheit, es ist allenfalls der meist vergebliche Versuch, eine tieferliegende Störung zu beheben. Und so ist Sebald auch höchst zweideutig, wo es um die Ursachen der Lebensuntüchtigkeiten seiner Helden geht. Öfters muß eine böse, unverständige „Gesellschaft“ dafür herhalten, wenn es den Untergang der hochfeinen Kunsthersteller zu erklären gilt. Mörikes - zahllose - Hypochondrien sind dann nicht zuletzt „auch die seelischen Folgen einer in zunehmendem Maß von Arbeitsethos und Wettbewerb bestimmten Gesellschaft“. Das sind klischeehafte Manieren, wie sie einem Autor vom Niveau eines Sebald nicht wohl anstehn. Am derbsten wird es, wenn diese grobe, gewalttätige „Gesellschaft“ des 18. und 19. Jahrhunderts in ein Kontinuum mit dem Hitlerregime gebracht wird: Kellers Ideal eines vorkapitalistischen Goldes ist dann nicht nur ein poetischer Widerpart zum schnöden „wildwuchernden Kapital“ seiner Zeit, sondern gleich auch noch zum vorhergeahnten Nazigold in Schweizer Banktresoren.

Sebalds sprachlichem Modulationsvermögen gehört auch diesmal unsere Bewunderung. Er macht sich die philiströsen Bildungsreste („also akkurat zweihundert Jahre bevor ich ...“) ebenso zu eigen wie den alemannischen Tonfall: „Wie es aber oft im Leben so ist, hat es nachher einunddreissig Jahre gebraucht ...“ Wo das Feine und Reiche endet, das Gespreizte und Demodierte beginnt, mag eine Frage persönlichen Geschmacks sein. Daß Sebald es sich nicht verkneift, in der läppischen Manier Adornos die Reflexivpronomen vom Subjekt weg ganz nach hinten in den Satz zu rücken, ist gewiß keine Frage des Geschmacks mehr- es sind die kleinen Unvollkommenheiten, die es braucht, um das Vollkommene des Ganzen drumherum nur um so deutlicher sichtbar werden zu lassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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