Eine Rezension von Bertram G. Bock


Inkonsequent

Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund!

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 278 S.

 

Schade, daß es nicht das geworden ist, was es hätte werden können, denn die Anlagen des Buches sind vielversprechend, der Autor nicht ohne Möglichkeiten. Doch Ralf Rothmann hat diese bzw. seine Chancen nicht genutzt und läßt die Geschichte sich schlichtweg ins Leere verlaufen. Da hat aber auch der Lektor oder die Lektorin etwas flüchtig gearbeitet bzw. Rothmann auf seine Schwachstellen nicht deutlich genug hingewiesen.

Louis Blaul, genannt Lolly, ist Hauptfigur, Erzähler und der Dreh- und Angelpunkt dieses Romans über eine Jugend. Lolly ist knapp zwanzig und leidet massiv unter Selbstwertproblemen. Jedenfalls redet er sich ein, nicht nur zu schmale Schultern zu haben, sondern auch eine zu dünne Stimme und gräßlich zu schielen. Letzteres kaschiert er dadurch, daß er beständig mit einer dunklen Sonnenbrille herumläuft. Er trägt an sich, seinem Leben und der Welt sehr, sehr schwer. Fatalistisch kann er sich meist nur der Welt ergeben. Aufbegehren ist nicht, auch wenn die Sehnsucht hin und wieder nagt. Das Abitur hat er geschmissen, den gutdotierten Job in der Werbeagentur seines Vaters abgelehnt. So streift er eben durch Berlin, sozusagen auf der Suche nach der Zukunft, die er aber so nicht findet und daher wiederum an sich und dieser Welt leiden kann. Auf’s Maul gefallen ist er deswegen aber noch lange nicht und erzählt - via Rothmann - seine eigene Story flott, mit Witz und Ironie. Das ist kein Bruch, läßt aber das eine oder andere im Verlauf der Geschichte nicht glaubwürdig klingen. Obwohl schüchtern und mit seinem Körper unzufrieden, ist eins kein Problem: Sex. Das ist von der Anlage des Charakters wenig konsequent und wird weder plausibel erklärt bzw. entwickelt noch literarisch ausgelebt. Da heißt es dann nur knapp und nicht ironisch: „Ehrlich gesagt, bisher war Küssen für mich immer nur die Vorbereitung aufs Vögeln gewesen. Ich absolvierte das zwar, weil es dazugehörte; doch in Gedanken war ich mit der Zunge längst woanders.“ Daß seine Freundin Vanina einen auffällig großen Hintern hat, bringt ihn dagegen wieder fast zur Verzweiflung.

Fast schon langatmig, mit vielen Unterbrechungen, Abschweifungen und Rückblenden, wird die Geschichte dieser Liebe erzählt, die an sich genommen schlichtweg langweilig ist und kaum Besonderheiten aufweist. Tragend für einen Roman ist sie nicht, außer man hätte sich vorgenommen, von dem Alltäglichen zu schreiben. Hierzu passen aber weder Stil noch Erzähltechnik. Ist dies vielleicht der Grund, mit Hilfe von Mary den Roman aufzupeppen, ihn zu retten? Mary nämlich ist Lollys Mutter, aber eine, wie sie wohl nur wenige haben. Sie kommt und geht, wann immer sie will, sie verreist in alle Welt, wann immer sie Lust dazu hat. Sie jobbt mal hier, absolviert dort einen Handauflegekurs, pumpt sich mit bewußtseinserweiternden Drogen voll oder macht sich an irgendwelche Männer ran. Während Lolly sehr unausgegoren die Kunst des stillen Leidens verkörpert, verkörpert Mary die Kunst, das Leben zu genießen. Lolly ist jung und hat das Leben noch vor sich; Mary ist zwar noch nicht alt, hat aber die meiste Zukunft schon hinter sich. Er ist Mann, sie ist Frau, er hat ... Oppositionspaare ließen sich noch eine ganze Reihe bilden. Aber wenn es das ist, was Rothmann beabsichtigt hat, dann ist ihm das leider nicht überzeugend gelungen. Beide Figuren leben - und nicht nur, weil es die Anlage des Romans so will - aneinander vorbei, sie haben sich, wenn sie sich treffen, letztendlich auch nichts zu sagen. Es kann überhaupt keine Spannung zwischen den Figuren aufkommen, die gezeichnete Opposition wird hin- und zur Kenntnis genommen, zum Hinterfragen besteht kein Anlaß. Deutlich wird das Problem Rothmanns, diese beiden Figuren in den Roman zu integrieren, etwa in der Mitte des Buches. Plötzlich - ohne ersichtlichen Grund - wird nun die Lebensgeschichte der Mutter ausführlich geschildert. Aber all das, was man da erfährt, hat für den Roman und seinen Protagonisten nicht die geringste Auswirkung. Und braucht man wirklich so viele Seiten, um zu erklären, warum die Mutter so gut Geschichten erzählen kann (was sie im Roman aber gar nicht tut)?

Der Eindruck entsteht, daß Rothmann die Figur der Mutter irgendwie unterbringen wollte und daher Lolly erfand - oder umgekehrt. Aber beide haben letztendlich nichts miteinander zu tun. Da ist der Vater schon etwas besser gezeichnet, etwas besser mit Lolly verstrickt und auch für den Fortgang des Romans dramaturgisch überzeugender eingesetzt. Ihm wird zwar von Rothmann nicht sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber trotzdem ist er präsenter, deutlicher und überzeugender. Da haben die vielen Seiten für die Mutter viel weniger gebracht. An weiteren Figuren gibt es noch die aufgrund ihres Alters etwas verwirrte Nachbarin, ein xmal zitierten Freund namens Kosta, der aber überhaupt nicht auftaucht, sowie ein paar Bekannte, die jedoch nur zur Ausschmückung dienen. Ein überschaubares Personal also, welches sich aber letztendlich gar nicht trifft, aneinander vorbei agiert und nicht zusammenkommen will.

Auf den letzten zwanzig Seiten kommt es dann zum sogenannten Höhepunkt des Romans, der an Einfachheit und Motivationslosigkeit kaum zu überbieten ist. Lolly betrügt Vanina mit ihrer besten Freundin Mara. Im Grunde ist es eher umgekehrt, denn Mara ist diejenige, die das Heft in die Hand nimmt. Die Folge: Vanina verläßt Lolly und fährt mit Mara in den Urlaub.

Selbst mit viel gutem Willen kann man den Roman nicht als gelungen bezeichnen. Zwar sind Stil, Figuren, Erzählweise, ja selbst Ereignisse jeweils für sich genommen gar nicht schlecht, manchmal auch richtig gut - aber sobald sie zusammentreffen, ist alles vorbei. Es ist, als hätte Rothmann (sowie das Lektorat) den Überblick verloren, was einen richtig verwundert. Denn in Stier (1991) hat Rothmann eine weitaus kompliziertere Geschichte ungemein besser (auch viel verschachtelter) erzählt, ohne daß es zu irgendwelchen Ausfällen kam. Es ist nicht nur schade, daß Flieh, mein Freund! so flach geworden ist, es ist im Grunde ärgerlich, denn die Anlagen und Möglichkeiten sind vorhanden gewesen. Wenn ein Rothmann, dann sicherlich nicht der.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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