Eine Rezension von Licita Geppert


Ein Roman, so lang wie ein Leben

Jacqueline Park: Das geheime Buch der Grazia dei Rossi

Roman. Aus dem Amerikanischen von Johanna Kolf.

Droemer Knaur, München 1998, 747 S.

 

Man freut sich vom ersten Augenblick an, wenn man dieses mit vergleichsweise wenig Aufwand kostbar aufgemachte Buch in den Händen hält, und diese Freude hält auch noch an, wenn man es längst ausgelesen hat, was angesichts der Seitenzahl doch seine Zeit benötigt. Jacqueline Park ist ein wahres Kunststück gelungen: Sie hat einen Renaissance-Roman geschrieben (und damit eine vielbeschriebene Epoche gewählt), der so viele neue Facetten des Lebens dieser Zeit sichtbar macht, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Sie hat außerdem noch ein sehr diffiziles Thema gewählt: Das Leben einer Jüdin im Italien des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Virtuos hat die Autorin aus einem winzigen Aufhänger die Geschichte eines jüdischen Lebens, einer jüdischen Frau ersonnen, die so authentisch wirkt, daß man sich beim Lesen des von der Protagonistin für ihren Sohn verfaßten Lebensberichtes unwillkürlich fragt, ob es sich nicht doch um ein wiederentdecktes Exemplar eines echten „libro segreto“ handelt. Die Autorin entgeht der Gefahr, sich in der äußerst komplexen Handlung zu verheddern. Sie schafft mit Grazia dei Rossi del Medigo eine kraftvolle Frauengestalt, die zwar Kind ihrer Zeit ist, aber dennoch emanzipiert handelt, wenn es die Situation gebietet. Ihre Grazia ist furchtlos und beherzt, klug und gebildet, geschickte Händlerin als Erbteil ihres Vaters, eines jüdischen Bankiers, intelligente Gesprächspartnerin und schließlich Gelehrte.

Ihre Lebensgeschichte entwickelt sich trotz oder gerade wegen der vielen, durch Judenverfolgung, Kriege oder anderes Ungemach bedingten Brüche dennoch ganz folgerichtig. Viele Male muß sie ihren Lebensraum und ihre Lebensverhältnisse wechseln, und - auch dies eine Besonderheit des Buches - so folgen wir ihren Spuren durch die großen Städte Italiens: Mantua, Venedig, Rom, Florenz. Jede der Städte entsteht vor dem Auge des Lesers mit all ihren historischen Besonderheiten, den Bauten und Kunstwerken, aber auch dem Geist und den großen Familien, die sie prägten. Aber wir folgen Grazia auch durch die persönlichen Lebensbereiche, angefangen beim armseligen kleinen „banco“ über das Ghetto bis hin zu den Fürstenhöfen dieser Zeit.

Hier findet sich auch der historische Ausgangspunkt für dieses in verschwenderischer Ideenfülle beschriebene Leben: zwei Briefe, der eine von Isabella Gonzaga, der Fürstin von Mantua, an die Jüdin Pacienza Pontremoli mit der dringenden Bitte, doch um ihrer Liebe zu einem christlichen Edelmann willen den Glauben zu wechseln, und die Antwort der unentschlossenen Pacienza. Grazia dei Rossi, die im Roman an die Stelle des historischen Vorbilds tritt, wird diese Liebe ihr Leben lang im Herzen bewahren, sie wird jedoch zweimal der Entscheidung enthoben, das erste Mal durch die Laune des Herzogs, beim zweiten Mal durch die Launen des Schicksals. Damit erspart Jacqueline Park ihr und uns einen Ausgang, bei dem Grazia einem der beiden Männer hätte Leiden bereiten müssen, die ihr Leben begleiteten - dem gelehrten jüdischen Arzt Judah del Medigo, ihrem Ehemann, oder Pirro Gonzaga, ihrem soldatischen Geliebten.

Die verschiedenen Lebensalter führen uns jeweils eine Grazia vor, die von jugendlichem Überschwang zur erblühenden jungen Ehefrau und schließlich zur Gelehrten reift und Kontrolle über sich und ihre Gefühle erlangt, aber niemals ihr innerstes Wesen verleugnet. In schwierigen Situationen, deren es in einem jüdischen Lebenslauf noch zahlreichere als in einem ohnehin schon gefährdeten christlichen gab, wird sie zum Fels in der Brandung. Grazia wird kämpfen, solange Leben in ihr ist, aber sie weiß abzuwägen, wann ein Kampf sinnvoll geführt und vielleicht sogar gewonnen werden kann. Andererseits bewahrt sie sich eine Freiheit im Denken, wie sie nur sehr starke Persönlichkeiten überhaupt jemals erlangen können.

Dieser literarisch, historisch und künstlerisch ungemein anspruchsvolle Roman ist kein Produkt einer intellektuell überfrachteten Gedankenwelt. Die Ich-Form der Erzählung gibt der Autorin die Möglichkeit, mit der Sprache zu spielen. Ob es sich um die innersten Gefühle, die historische Situation oder um Beschreibungen des häuslichen Lebens handelt, immer ist die Sprache angemessen, bildhaft und farbenreich. Die Erzählweise ist dicht und eindringlich. Die Szenerie wirkt so lebendig wie ihre Heldin. Es war phantastisch, den Spuren dieser Frau zu folgen: Denn wenn es auch nicht wahr ist, so ist es doch eine gute Geschichte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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