Eine Rezension von Karl Friedrich


Lebenserinnerungen eines Malers

Gabriele Mucchi: Verpaßte Gelegenheiten/Le occasioni perdute

Ein Künstlerleben in zwei Welten.
Aus dem Italienischen von Christine Wolter.

Dietz Verlag Berlin, Berlin 1997, 413 S.

 

Wer in den siebziger, achtziger Jahren in Ost-Berlin Kunstausstellungen durchstreifte, stand regelmäßig vor Bildern, die Figuren zeigten, auf denen der Wind mitgewirkt haben mußte. Umgestürzte Fahrräder, aufgebauschte Mäntel, wehende Haare. Bilder, in denen heftige Bewegung festgehalten worden war. Gabriele Mucchi hat diese Bilder gemalt, dramatisch bewegte Szenen, realistischer Stil. Schnell erkannte der Betrachter, dieser Maler kam aus Italien, dem fernen südlichen Land. Und er mußte die menschlichen Leidenschaften malen, alltäglich, aber auch politisch. Erschossene, Gemarterte, Frierende; Krieg und Mord, aber auch „Gerechte Verteidigung“, ein Bild, das später in den Besitz der Berliner Nationalgalerie kam. Der 1899 in Turin geborene Mucchi hat eine Art Tagebuch geschrieben, das 1970 begonnen wurde und zurückreicht bis in die Jahre der Kindheit. Jahr für Jahr, 1908 einsetzend, hat er verstreute Erinnerungen zusammengetragen. Erzählt geheimnisvoll von der Herkunft, teils böhmisch, vor allem aber italienisch. Liebevoll beschreibt er Großeltern, Vater und Mutter. Der Vater auch Maler, die Mutter (verrät das Foto) eine südliche Schönheit.

Goethes Dichtung und Wahrheit kennt Mucchi gut, denn er spielt auf die Konstellation der Sterne an, wenn er von der Zeit der Geburt spricht. „Ich“, schreibt der an sozialen Problemen und Kämpfen regsam interessierte Mucchi, „bin in den Jahren der ersten sozialen Kämpfe der Arbeiter und der Bauern geboren, als in Italien zum erstenmal vom Sozialismus gesprochen wurde.“ Ein politischer Maler schreibt von seinen politischen, gesellschaftlichen, dann erst von seinen künstlerischen Erfahrungen: „Ohne Zweifel ist mein Leben als Intellektueller und Künstler, besonders von einem bestimmten Zeitraum an, dem Augenblick meiner ,Klarheiten‘, von der von mir gewählten ideologischen Richtung begleitet worden. War es der sozialistische Stern, ein neuer Stern für eine neue astrologische Metaphysik?“

Es ist schon auf den ersten Seiten erkennbar, der Maler, dessen Interesse sozialen Themen galt, liebt den blumigen Ausdruck. Er zeigt bisweilen auch die Unschlüssigkeit dessen, der sich erinnert. Da sind wechselvolle Bilder in der Familie, Rodin kommt zu Besuch, häufiger Orts- und Wohnungswechsel, und Mädchengeschichten begleiten ihn vom Norden in den Süden und wieder zurück nach Mailand. Die Stadt Milano findet er in einer Hinsicht ganz fürchterlich: „Die Mailänder, die dem Geldverdienen nachjagen, liebe ich nicht.“ Auch irritiert ihn die Stadt „voller Beton, chaotisch“. Die amerikanischste aller italienischen Städte. Daß in einer Kirche dieser Stadt Leonardo da Vincis „Abendmahl“ zu sehen ist, wird von Mucchi seltsamerweise nicht erwähnt. Was ihm an Mailand gefällt, „das sind seine arbeitenden Menschen, ich habe die gewissenhaften Arbeiter gern, die eifrigen Genossen, die engagierten Intellektuellen“.

Früh reiste Mucchi auch in die DDR. 1956 erhält er eine Gastprofessur an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, zu seinem Freundeskreis zählen bald die Künstler Arno Mohr, Fritz Cremer, Herbert Sandberg und Paul Dessau. Er lebt sich ein, wird fortan bis in die Gegenwart zwischen Mailand und Berlin pendeln.

Mucchi liebte sein Land, fand aber dort nicht die Gesellschaftsordnung seiner Träume, Sozialismus genannt. In Ost-Berlin kann er arbeiten, wird großzügig unterstützt, reist, wann immer er will, nach Italien oder in andere Länder der Welt. Daß er das Ost-Berlin der siebziger Jahre eine „blühende Stadt“ nennt, ist sicher eine anhaltend-nachwirkende und rätselreiche Sinnestäuschung. Es ergibt, lehrt die jüngste Geschichte, immer ein unreines Bild, wenn man entweder nur mit dem linken oder nur mit dem rechten Auge auf graue Städte oder mattgraue Landschaften blickt. Für den Maler Mucchi gilt: Er läßt den Traum vom besseren Leben in der ganzen Welt nicht sein. „Mit dreiundneunzig“, schreibt er am Schluß seiner Verpaßten Gelegenheiten: „Immer noch fähig, auf die Gerüste für meine Wandmalerei zu klettern, und also ,nicht alt‘ (darauf kommt es mir sehr an), sehe ich das Schicksal der Welt so: Der Kapitalismus ist auf dem Gipfel seiner Macht, aber er trägt wahrnehmbare Keime seines Niedergangs in sich und er zerstört seinen Herrschaftstraum. Er wird sich selbst zerstören und die Erde verwüsten. Aber inzwischen - wann, weiß man nicht - wird der Kommunismus wiedererstehen oder (bleibt ruhig, Freunde!) etwas anderes, was mit Formen von Kollektivismus beginnt, was die Ausbeutung und die fortschreitende Zerstörung der Welt verhindern wird.“ Politische Träumer bleiben eben Träumer, auch wenn ihnen eine bisweilen schöne, an Wünschen überreiche Naivität anhaftet. Von der Erfahrung, daß realpolitische Utopien, mögen sie von ihren vortrefflichsten Verfechtern auch edel und hilfreich und gut allemal erdacht gewesen sein, leider immer auch erhebliche Gesellschaftspotentiale zerstören, hat Gabriele Mucchi, zwischen dem einstigen Ost-Berlin und Milano unbehelligt viele Jahre hin- und herfahrend, offenbar wenig bemerkt. So geht es den Verliebten: Ihr Blick ist fast immer nur auf die Geliebte gerichtet. Gesehen hat er alles andere erst dann, als es mit dem vergoldeten Traum vom besseren Dasein für alle vorbei war. Wer nachträglich Katzengold für Katzengold erklärt, ist ein schlechter Beobachter.

Dennoch ist dieses Buch nicht durchweg von solchen Disparatheiten durchzogen. Immer dann, wenn Mucchi in seinen Erinnerungen von Atelier zu Atelier geht, von seiner künstlerischen Arbeit oder vom italienischen Leben spricht, von seinen architektonischen Experimenten plaudert, dann ist die Lektüre erfreulich. Wenn er polemisiert, sei es gegen seine „schlaffen“ Landsleute während der Nazi-Okkupation oder gegen die abstrakt malenden Kollegen, wird es dünner, weil ein rechthaberischer Ton quietscht. Auch schleichen sich in manche Passagen des Buches bedenkliche Plattheiten ein. So bleibt ihm die füllige Brust einer Cousine zeitlebens im Gedächtnis: „Ähnliche Formen, nicht nur weibliche, erinnerten mich auch später an sie, zum Beispiel bestimmte glatte, runde Gegenstände, ja einmal sogar der Winddruck, den ich spürte, als ich probehalber die Hand aus einem Zugfenster hielt.“ So bildet sich Stil, so entsteht Kunst. Was auf den ersten Blick wie Plattheit erschien, hat eine Wurzel, aus der ein ganzes Werk hervorquillt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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