Eine Rezension von Gret Hoffmann


Ein bisher unbekannter Chronist und Dichter

Soma Morgenstern: Flucht in Frankreich

Ein Romanbericht.
Herausgegeben von Ingolf Schulte.

Dietrich zu Klampen, Lüneburg 1998, 431 S.

 

Soma Morgenstern, ein zu Unrecht Vergessener oder besser noch: Unbekannter, wird allmählich entdeckt. Ich griff nach seinem Buch Flucht in Frankreich, um neue Fakten über das antifaschistische Exil in Frankreich zu erhalten, und fand weitaus mehr: neben den Informationen einen Schriftsteller von großer Eigenart und Schönheit.

1890 in Ostgalizien geboren, studierte Soma Morgenstern nach dem Besuch des Gymnasiums in Tarnopol Jura. 1928 wurde er Wiener Kulturkorrespondent der angesehenen „Frankfurter Zeitung“ - er war also wer, und er wollte noch mehr. Natürlich schrieb er an einem Roman. Die Politik kam ihm aber erheblich in die Quere: 1934 mußte er - der Jude - seinen Posten bei der Zeitung verlassen. 1935 erschien der erste Band seiner Romantrilogie Funken im Abgrund. Dann wurde Österreich annektiert. Morgenstern ging nach Frankreich und war einer der vielen Emigranten, die von der Hand in den Mund lebten und alle möglichen und unmöglichen Versuche unternahmen, eine Aufenthaltsgenehmigung, ein Visum, irgendeine Sicherheit zu bekommen. Seine Frau und sein Sohn waren in Dänemark, Freunde und andere Verwandte in Palästina und den USA. Aber es stellte sich als unmöglich heraus, schnell in eines dieser Länder zu gelangen. Irgendein notwendiges Papier hierfür fehlte immer, und als zusätzlich schwierig erwies sich sein Geburtsort: War er nun Pole oder Österreicher?

Und dann begann in Frankreich die Internierungswelle. Alle im Land befindlichen Deutschen kamen in Lager. Mit Veränderung der jeweiligen politischen Lage wurden die Bedingungen modifiziert, und von Lager zu Lager waren die Gegebenheiten auch unterschiedlich. Mit Beginn des Krieges und dem Vorrücken der deutschen Truppen spitzte sich die Situation in den Lagern zu. In der Hauptsache waren die internierten Deutschen Antifaschisten und Juden, die vor Hitler geflohen waren, doch es waren auch einige gerade in Frankreich weilende Hitler-Anhänger interniert worden, und Wankelmütige gibt es überall und zu jeder Zeit. Die französischen Soldaten, die die Lager bewachten, und mehr noch die französische Bevölkerung sahen, da sie nicht ausreichend informiert waren, in den Deutschen - und auch in diesen Deutschen - ihre Feinde und begriffen erst sehr spät, daß die meisten Internierten die Feinde ihrer Feinde waren. Irritationen, die für manchen schicksalsentscheidend wurden ...

Auch Morgenstern wurde Lagerinsasse. Erst in einem großen Stadion, später in einem Lager - einer ehemaligen Möbelfabrik - 120 km südlich von Paris. Nach kurzzeitiger Freiheit ging es wieder in ein Pariser Stadion, von dem aus Transporte ins Land zusammengestellt wurden, denn die Deutschen näherten sich bedrohlich der französischen Hauptstadt. Morgenstern war im wahrscheinlich letzten Transport. Das Ziel war die Bretagne, das Departement Finistere. Auch hier waren die Bedingungen miserabel, es gab eine Baracke für Österreicher und eine für Deutsche. Der französische Kommandant begriff erst allmählich, daß viele der Eingesperrten Väter und Söhne waren, die für Frankreich kämpften. Die Internierten bedrückte zunehmend - neben den „normalen“ scheußlichen Bedingungen eines Internierungslagers - die Furcht vor der näher und näher kommenden Wehrmacht. Und die französischen Bewacher warteten auf Befehle, die nicht kamen ... Zuletzt hatten die Franzosen die Idee, das Lager als dem Schweizer Roten Kreuz unterstellt auszugeben. Die Deutschen, erfahrener im Umgang mit Nationalsozialisten, konnten darüber nur lachen: Das sollte die Brutalität der Deutschen mindern? Schließlich kamen sie: Die Arier wurden von den Juden getrennt, und der neue deutsche Kommandant gab sich seinen von den Franzosen eingesperrten Landsleuten gegenüber loyal: Sie durften sogar stundenweise das Lager verlassen, und wer nach Deutschland wollte, mußte es nur melden. Daß wenig später die Gestapo kommen würde, war den Internierten klar. Einige - unter ihnen Soma Morgenstern - nutzten die gewährte Freiheit und setzten sich in Richtung Süd-Frankreich, in die unbesetzte Zone, ab. Was natürlich strapaziös und nicht ungefährlich war.

Endlich in Marseille angekommen, geht der Kampf um Papiere nach Übersee weiter. Genau so, wie es Anna Seghers eindrucksvoll in ihrem Roman Transit beschrieben hat: Einmal hatte man eine Schiffskarte, dann war das Visum abgelaufen, oder es fehlte irgendein anderes (Transit)-Papier, das man erst bekam, wenn das Schiff schon weg war. Schließlich klappte es bei Morgenstern mit einem Schiff nach Oran, von hier ging es nach Casablanca, von da nach Lissabon und endlich nach New York. Dazwischen immer Warten, Hoffen, neue Anläufe bei den zuständigen Instanzen. Um nicht vollkommen zu verzweifeln, schrieb Soma Morgenstern seine Erlebnisse auf.

So jedenfalls suggeriert es das vorliegende Buch, das mit „Romanbericht“ eine Genrebezeichnung versucht, die die Eigenart des Ganzen fassen will. „Bericht“ - weil für Historiker und Exilforscher eine Menge an Fakten enthalten sind. Unter anderem ist das Buch die einzige Quelle, die beschreibt, daß und wie dieses Internierungslager von der Wehrmacht übernommen wurde. (Was meistenteils in den historischen Darstellungen bestritten wurde: kein Internierungslager wäre den Deutschen in die Hände gefallen.) Das sehr akribische und interessante Nachwort des Herausgebers Ingolf Schulte beweist, daß anhand des Buches viele der damaligen Gegebenheiten detailliert rekonstruierbar sind. Eine Fundgrube also für alle, die die Spuren antifaschistischen Exils festhalten wollen. Andererseits der „Roman“: Dazu gehören Schilderungen der Lagererlebnisse, die genauen Beobachtungen, die scheinbare Wiedergabe von Gesprächen der Lagerinsassen und die Bemerkungen des Autors dazu. Zirka 10 Personen begleiten das gesamte Buch als wirklich handelnde und immer wiederkehrende Figuren. Der Herausgeber konnte nicht genau entschlüsseln, inwieweit sie real sind, aber zumindest der Erzähler, der arische Schriftsteller Petrykowsky, ist erfunden. Mit der Figur des eingeschleusten Nazis Steiner ist eine extra Romanhandlung versucht und in der zweiten Hälfte des Buches anscheinend wieder aufgegeben worden. Diese Eigenart des schwebenden Erzählens ist es unter anderem, was mich fasziniert, und diese Weisheit, mit der über das Lager, die Eigenarten von Internierten, die Besonderheiten dieser Emigranten sinniert wird. Fast scheint, das kann nicht unmittelbar gleichzeitig erlebt und beschrieben sein - so abgeklärt und weise ist es. (Aber der Herausgeber meint: 1952 muß der Text bereits so vorgelegen haben.) Und von einem Sarkasmus und voller jüdischem Humor, der bekanntlich etwas sehr Besonderes ist, weil die Juden zu den wenigen Völkern gehören, die sich über sich selbst herrlich lustig machen. Auch die Gespräche sind natürlich keine Protokolle, sondern die gekonnte Darstellung dessen, was den Extrakt, die besondere Art und Weise der ellenlangen tagtäglichen Unterhaltungen eingesperrter intellektueller Entwurzelter ausmacht. Nie habe ich es so sinnlich nachempfindbar gelesen, wie jeweils zwei oder drei zusammensaßen und ihre Angst wegzureden versuchten, indem sie über Gott und die Welt stritten. Dabei ist der Autor von einer bewundernswerten Genauigkeit, die nichts und niemanden verschont: weder die Österreicher noch die Juden, noch die ewigen Streitereien zwischen den Deutschen und Österreichern und den Juden und, und, und ...

Ein bemerkenswertes und beeindruckendes Buch also, das 1998 zum erstenmal erschien. 1976 ist Soma Morgenstern in New York gestorben. Einige seiner Texte sind nach 1945 in den USA erschienen, bei weiten nicht alle. Ingolf Schulte und der zu Klampen Verlag haben sich nun des Nachlasses angenommen und entdeckten für uns einen großen Erzähler und ein leider nicht so ungewöhnliches Schicksal. Seit 1994 erscheint ein Buch nach dem anderen: Die Romantrilogie, Erinnerungen, Briefe, Erzählungen, Essays. Ein Grund dafür: Seit 1996 befindet sich der Nachlaß Soma Morgensterns im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/Main. Auf der letzten Seite unseres Buches findet sich der Editionsplan, der bis ins Jahr 2001 reicht und noch drei Bücher vorsieht. Hierfür ist dem Herausgeber alle erdenkliche Unterstützung zu wünschen. Er ist dabei, einen Schatz zu heben!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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