Eine Rezension von Helmut Hirsch


Ein großer Erzähler

Javier Marías: Alle Seelen

Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr.
Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 276 S.

Javier Marías: Morgen in der Schlacht denk an mich

Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn.
Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 428 S.

 

Als vor drei Jahren der Roman Mein Herz so weiß erschien, war die Kritik einhellig der Meinung, hier liege Weltliteratur vor. Die Verkaufszahlen stiegen steil nach oben, und das in vielen Ländern. Der Ruhm hielt an, denn der Erzähler setzte mit weiteren Büchern fort, was nicht zu verschweigen war, hier war Prosa von großem Gewicht, hier erzählte einer, der gekonnt und gebildet wie ein Geisterbeschwörer die Leser und Kritiker zugleich erregte. Javier Marías war anfangs selbst von dieser Welle des Ruhms und des Lobes überrascht. Denn in Spanien gilt der intellektuell und kühl erzählende Autor nicht soviel, eher entspricht er einem englischen oder auch angelsächsischen Erzählgestus. Aber gerade darin liegt vielleicht auch das Geheimnis seines weltweiten Erfolgs.

Alle Seelen ist ein Roman voller Komik. Und er spielt in England. Erzählt wird von einem Aufenthalt in Oxford. Der junge Gastprofessor aus Madrid erinnert sich an zwei recht eigentümliche Jahre akademischer Arbeit und Freizeit in Oxford, der berühmten Universitätsstadt. Was er erzählt, erheitert beträchtlich. Der Erzähler schildert den seltsam undurchschaubaren Betrieb an der Universität, akademische Riten, gesellschaftliche Konventionen. Er lebt auf Zeit in dieser Welt, beschreibt sie genau, lapidar und komisch, vermag aber nie ganz einzudringen in diese Welt der burlesken Eigentümlichkeiten. Gerade das aber ist die Voraussetzung für sein Erzählen. Überall sieht er Nahes und Fremdes, in den Antiquariaten, wo Liebhaber des Gedruckten ihre Schrullen leben und ein schattenhaftes Dasein führen. Dann besucht er exklusive Dinners, auf denen es seltsam steif zugeht, bis auch dort der Alkohol Geist und Körper enthemmt und wilder Vergnügungslust zutreibt. Marías erzählt das alles derb und zart, komisch und elegisch. Beim Porträt einer englischen Lady spricht der Gast aus dem südlichen Spanien von „jenem spezifisch englischen Lächeln, wie es die berühmten Würger dieser Nationalität auf der Leinwand verschwenden, wenn sie ein neues Opfer auswählen“. Die Dämonen Gier und Leidenschaft rangieren ganz vorn. Wer sich mit den Figuren in diesem akademisch-erotischen Panoptikum einläßt, erleidet womöglich Schaden, der Erzähler selbst vermag immer Distanz zu halten. Und daß er das geschafft hat, beweist seine spannend erzählte auf zwei Jahre Oxford zurückblickende Erinnerung.

Was Leser schon in den ersten Romanen spürten, das kühle pointierte Erzählen von seltsam schattierten Geschichten und Hintergrundgeistern, das Aufrollen von mehrfach gebrochenen Geschichten aus Alltag und Routine, hier im neuesten Roman des Spaniers wird es noch deutlicher. Morgen in der Schlacht denk an mich ist nicht nur ein ShakespeareZitat, es ist der Roman einer heiklen Situation. Schon auf der ersten Seite setzt die Spannung ein, erfährt der Leser vom plötzlichen Tod einer jungen Frau. Marta Téllez, so berichtet der anfangs geschockte Erzähler Victor Francés Sanz, stirbt, als sie sich (er ist fast der Geliebte der Toten!) gerade ausziehen will. Während der Ehemann der Toten in London weilt, fällt dem verhinderten Liebhaber eine seltsame Rolle zu. Er wird herausfinden, was das Leben dieser Verstorbenen bestimmte, warum gerade bei solcher Gelegenheit der Tod alles veränderte. Kunstvoll durchquert der Erzähler viele Wege, um aufzuhellen, was im Dunkel und was im Halbdunkel dieses Lebens lag. Oft konstruiert Javier Marías auch Fährten, um Ideen zu entwerfen, sie aber gleichzeitig auch im ungezügelten Fluß des Erzählens zu strapazieren.

Victor ist nicht nur ein guter Beobachter aller Situationen, er ist auch ein artifizieller Erfinder von erdachten Geschichten, ein penibler Verwerter von Dokumenten, die allesamt in seine erhellend-aufklärenden Bestrebungen eingebunden werden. Das alles geht mit einer bewundernswerten Langsamkeit vonstatten, der Erzähler zieht mit jedem Satz einen neuen Faden aus dem Dickicht des Geheimnisvollen, das er über weite Strecken zuvor auch selbst geschaffen hat. So liest sich dieser Roman manchmal auch wie ein Krimi. Wie ein raffiniert ausgeklügelter Mordfall. Jede noch so geringe Kleinigkeit wird beobachtet und dem analytischen Nachdenken anvertraut. Der Erzähler versäumt keine Gelegenheit (weil er auch genügend erfindet), um nicht noch ein weiteres, keck ersonnenes Bausteinchen zur Lebensgeschichte der toten Frau beizusteuern. Immer ist der Erzähler deshalb in Bewegung, auch wenn wenig geschieht. Er besucht ihr Begräbnis, schreibt eine Rede für ihren Vater, der ihn beim spanischen König einführt, und er wirbt um Luisa, die Schwester der Toten.

Großkritiker haben in den Romanen von Javier Marías nicht nur brillante Erzählqualitäten entdeckt. Auch ist manchem Leser und Beobachter dieser Prosa nicht entgangen, daß hier ein ungewöhnlich kühler Kopf am Werke ist. Ein Mann, der lustvoll erfindet, um genüßlich recherchieren zu können. Der im Eifer der ungebremsten und bisweilen künstlich ertrotzten Beobachtungen Dinge aufs Tableau bringt, die sich als mutwillige Konstruktion erweisen. Wer derartige Verschachtelungen liebt, kommt in diesen Romanen auf seine Kosten. Ein intellektuelles Spiel wird inszeniert, das dem dafür disponierten Leser Futter in Hülle und Fülle bietet. Zwielichtig sind die Figuren dieses Autors, die erzählen, allemal. Und das wiederum erklärt auch den anhaltenden Schauder, der das Aroma dieser Prosa bestimmt. Trug fungiert als ein unverwischbarer Teil der Wahrheit, der Wirklichkeit. Wahrheit aber auch immer als ein Teil des Truges, des wirklichen und des erdachten.

Seit seinem ersten Roman, der in Deutschland Furore machte (Mein Herz so weiß), wird dieser Erzähler oft und gern gelesen. Schon kann man von der unangreifbaren Allmacht des Spaniers sprechen. Das nächste Buch wird es abermals beweisen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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