Eine Rezension von Volker Strebel


Die Moldau fießt durch New York

Alan Levy: Verlorener Frühling

Vitalis Verlag, Prag 1998, 503 S.

 

Der Untertitel, „Ein Amerikaner in Prag“, irritiert heute niemanden mehr. Mehrere zehntausend amerikanische Mitbürger beherbergt die Moldaumetropole seit der „samtenen Revolution“ im späten Herbst 1989. Längst passé sind die bedrückenden Zeiten, unter denen ein George W. Kennan „Als Diplomat in Prag“ den realen Stalinismus beschrieben hat.

Die in deutscher Übersetzung vorliegenden Erinnerungen des amerikanischen Journalisten Alan Levy schildern den Zeitraum seines Aufenthaltes in Prag von 1967 bis zur angeordneten Ausweisung im Januar 1971. Mit einem aktualisierten Epilog nach dem Ende der kommunistischen Diktatur schließt das Buch. Im kanadischen Exil-Verlag „Sixty Eight Publishers“ waren Levys Erinnerungen 1975 in tschechischer Übersetzung erschienen, die amerikanische Ausgabe war zu einem großen Erfolg geworden.

Alan Levy, der heute wieder in Prag lebt und dort die renommierte amerikanische Zeitung „Prague Post“ herausgibt und leitet, hatte es 1967 mit seiner Frau und den beiden Töchtern nach Prag verschlagen. In New York hatte sich der Journalist nur recht und schlecht über Wasser halten können. Das Angebot, für den Broadway Adaptionen aus den Stücken der populären tschechischen Bühnenkünstler Jirí Šlitr und Jirí Suchy zu schreiben, kam da gerade recht - zumal diese Aufgabe in Prag erledigt werden sollte. Ein freiwilliger Wechsel des Lebens hinter den „Eisernen Vorhang“ war aus damaliger Sicht ungewöhnlich, doch Alan Levy konnte seine Familie von der Herausforderung dieser neuen Aufgabe überzeugen. Die Prager Künstlerfreunde Šlitr, Suchy und vor allem Miloš Forman führten Alan Levy in das ungewöhliche Leben des realen Absurdistan ein. Mit Treue zum Detail beschreibt der westliche Intellektuelle Szenen und Erlebnisse im Land des Franz Kafka. Den Zeitpunkt seines böhmischen Aufenthaltes hätte er nicht günstiger wählen können. Das Jahr 1967 bot einen spannungsgeladenen Einblick in dieses widersprüchliche System des realen Sozialismus. Da waren der inzwischen legendäre IV. Kongreß der tschechoslowakischen Schriftsteller und die Studentenproteste in Prag-Strahov. Mit Antonín Novotny zog sich der überfällige Abtritt des böhmischen Stalinismus schwerfällig dahin - bis zum Januarplenum 1968. Aus erster Hand schildert Alan Levy die ersten zaghaften Blüten des „Prager Frühlings“ sowie das kulturelle und politische Aufblühen einer ganzen Gesellschaft.

Alan Levys Bericht besticht durch seinen packenden Stil und eine geschickt aufbereitete Dramatik. Es ist ein Glücksfall, wenn in solch einer dramatischen historischen Situation ein Außenstehender als Augenzeuge zum Teilnehmenden wird. Levy verkörpert die seltene Mischung eines Beobachters, der sein Objekt ins Herz geschlossen hat und dennoch vor Liebe nicht blind geworden war. Liebevolle Schilderungen der Prager Atmosphäre wechseln sich ab mit pointierten Skizzen politischer Hintergründe. Menschen aus Fleisch und Blut beleben die historische Bühne. Porträts populärer Reformpolitiker wie Alexander Dubcek, Josef Smrkovský oder der Innenminister Ota Pavel - selbst Opfer des Stalinismus- ergänzen sich mit lebhaften Zeugnissen und Berichten von Freunden und Bekannten. Das Ganze liest sich wie ein spannender Krimi - kein Wunder, denn Alan Levy beherrscht sein Handwerk. Recherche der Hintergründe und authentische Schilderung des Erlebten ergänzen sich im Text zu einem lebendigen Geschehen, das sich heuer zum dreißigsten Mal jährt. In diesem Buch ersteht die atemberaubende Dramatik des damaligen tschechoslowakischen Alltags wieder auf.

Die täglich erwarteten Neuigkeiten, sich überstürzende Ereignisse und die andauernde Furcht vor dem sich immer bedrohlicher zusammenbrauenden Donnerwetter der sozialistischen und vor allem sowjetischen Bruderländer. Alan Levy läßt den Leser noch einmal teilnehmen an diesem verzweifelten Versuch einer kleinen Nation im Herzen Europas, eigene Wege zu gehen. Ob damals der Grundstein zu einer neuen Politik gelegt wurde, in welcher Sozialismus und Demokratie wieder zusammengeführt wurden? Alan Levy beteiligt sich an derlei historischer Auslegung nicht, sondern bringt die Fakten in einen lebendigen Zusammenhang, der auch heute noch nachdenklich macht.

Das Ende des „Prager Frühlings“, die dramatischen Selbstverbrennungen des jungen Jan Palach und Jan Zajíc, die Tragödie populärer Reformpolitiker, die aufgrund einer perfiden Dramaturgie dazu gehalten wurden, eigenhändig und Schritt für Schritt ihr Lebenswerk zuungunsten der Nation zu demontieren - der Zeitzeuge Alan Levy hält dies alles eindrücklich fest und vermag gleichzeitig einen schicksalhaften Zusammenhang darzustellen. „Es war eine Zeit, in der die Uhren rückwärts liefen. Man ging abends zu Bett und erwachte Monate oder sogar Jahre früher.“

Die sogenannte Normalisierung hatte eingesetzt, und zwanzig Jahre Winter sollten folgen.

Alan Levys erzählerische Kraft verleiht einem wichtigen Kapitel europäischer Geschichte ein würdiges und vor allem lebendiges Porträt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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