Eine Rezension von Kathrin Chod


Vor Sonnenuntergang

Ernst Jünger: Siebzig verweht V

Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 204 S.

 

Ernst Jünger muß man nicht gelesen haben. So jedenfalls eine nicht gerade seltene Meinung zu diesem Schriftsteller. Schon gar nicht muß man ihn gelesen haben, um sich ein abschließendes Urteil über ihn zu bilden. Dazu reicht aus, was man so alles über die „Stahlgewitter“ gehört hat. Daher bleibt der Autor für nicht wenige lediglich ein Militarist, ein Antihumanist, ein Wegbereiter des Faschismus. Es gibt wohl nur wenige Literaten, die einerseits ein Alter wie Jünger schreibend erreichten und dann nur aufgrund ihres Frühwerkes die Wertung für immer und ewig erhalten und behalten haben. Zudem stehen, im krassen Gegensatz zur großen Aufmerksamkeit, die der Name Jünger in der öffentlichen Diskussion immer wieder hervorruft, die Auflagenstärke und Verbreitung vieler seiner Werke. Da gibt es Bücher, wie Der Weltstaat, die mehr als dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen noch in der ersten Auflage zu beziehen sind. Auch der Tod des Schriftstellers im vergangenen Jahr brachte erst einmal noch nicht die befürchtete oder erhoffte Jünger-Renaissance. Bleibt eine überschaubare Schar von Bewunderern zur Rechten wie auch zur Linken. Für die einen konservatives Leitbild. Für die anderen, darunter François Mitterrand, Felipe Gonzales und Alfred Andersch, Chronist und Kommentator des 20. Jahrhunderts. Reibefläche und Anregung schließlich für Künstler wie Frank Castorf und Heiner Müller.

In der Reihe von Tagebüchern, die der Autor im Alter von siebzig Jahren begann, liegt hier der fünfte Band vor, entstanden in den Jahren 1991 bis 1995. Das letzte Werk Jüngers, das noch zu seinen Lebzeiten erschien. Und wieder muß man sich bei der Lektüre die Frage stellen, was von einer Jünger-Renaissance zu befürchten wäre, nimmt man die Aussagen des Schriftstellers so, wie sie sind. Sicher fällt das oft schwer, vieles scheint bewußt verschieden ausdeutbar belassen, der Bezug ist oft unklar. So bleibt Raum für Projektionen und Interpretationen. Meint er vielleicht seine frühen Schriften, wenn er 1991 schreibt: „Der Autor kann von seinem Werk abrücken. Es gefällt ihm in Teilen oder im Ganzen nicht mehr. Entweder hat er an Potenz gewonnen, oder der Text ist nicht mehr zeitgemäß ... Ein besonderes Mißgeschick kann hinzukommen ... und ein Werk begeistert, das seinem Schöpfer inzwischen mißfällt.“ Wer Band V von Jüngers Tagebüchern liest, wird einerseits erstaunt sein, wie wenig er von den weitverbreiteten Vorurteilen bestätigt findet, aber auch wie wenig er von der Jahrhundertgestalt letztlich überhaupt erfährt.

Da gibt es Briefe, Traumfetzen, wenige Gespräche, Besuche, Beobachtungen zum „Abenteuer des Alters“, bei dem jeder Tag Geschenk ist, einige Aphorismen, aber neue Thesen, neue Ansätze - wohl naturgemäß - kaum. Immer wieder läßt der Autor, dem es scheint, daß er sein Leben als Leser verbracht hat, Reflexionen über Wiedergelesenes, so von Schopenhauer, Turgenjew, Hugo, einfließen, aber auch Allerweltsweisheiten wie die folgende: „Der Autor ist wenig zur Korrektur seines Textes geeignet, da er ihn zu leicht überfliegt. Für Sinn und Stil bleibt er zuständig. Dabei ist zu beachten, daß der Sinn sich schon durch Setzung oder Streichung eines Kommas verändern kann.“

Daß ebendiese Tagebuchblätter bei einem auszugsweisen Abdruck in „Sinn und Form“ so einen geharnischten Protest hervorriefen, verwundert allerdings schon. Wohl galt das Lamento nicht den Zeilen, sondern dem Autor, dem eine Änderung nicht zugebilligt wurde. Der Rückzug Jüngers von seinen nationalrevolutionären Positionen der zwanziger Jahre, der bereits vor 1933 begann, bleibt dabei unbeachtet. Vereinfacht wurde und wird ein derartiges Herangehen vielleicht dadurch, daß Jünger seine Texte nicht revidierte, sondern einfach uminterpretierte. Was früher programmatisch verstanden wurde, wäre demnach nur dokumentierend gewesen. Oder wie es als Motto eines seiner Bücher heißt: „Das alles gibt es also.“ Oder wie es so schön heißt: „Wer würde den Seismographen für das Erdbeben verantwortlich machen.“ Hier bleibt offen, wie weit sich echtes Selbstverständnis mit einer Selbstrechtfertigung angesichts privaten Schauderns über den Nationalsozialismus vermischen. Ein Kunstgriff, der die öffentliche Büßerpose vermied. Ohne Zweifel sollte jedoch die Wandlung von Autor und so auch von dessen Schreiben bleiben. Kein Zufall, wenn Johannes R. Becher ihn 1943 zum Adressaten eines Aufrufes von Moskau aus über den Rundfunk wählte, in dem er Jünger aufforderte, im Westen darauf hinzuwirken, daß der Krieg beendet werde, er wolle es im Osten tun. Der Schriftsteller erfuhr dies erst mit der Öffnung russischer Archive. Hierzu der beredte Kommentar im März 1993: „Damit überschätzte er freilich meine Möglichkeiten“, und wäre damals ein Aufstand gegen Hitler gelungen, „hätten wir heute ein sowjetisches Europa, oder auch schon wieder keines mehr.“

Zu den wenigen politischen Kommentaren gehören Anmerkungen zur deutschen Vereinigung: „... doch wenn ein Bruder vor der Tür steht und anklopft, empfängt man ihn mit offenen Armen, ohne zu fragen, was es kostet, und rechnet nicht kleinlich mit ihm ab“ und „Auch eine Art von Parasitismus: den Achtungsverlust eines anderen, besonders bei tiefem Sturz, ausbeuten. Die meisten reiben sich die Hände, viele leben davon.“ Sein hundertster Geburtstag erscheint fast als eine Marginalie in den Notizen. Immerhin findet sich hier ein Ausspruch, der zeigt, wie gelassen der Schriftsteller mit der Polarisierung, die seine Person auslöst, umgeht: „Dank meinen Freunden, und meinen Gegnern auch. Beide gehören zum Karma - ohne sie kein Profil.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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