Eine Rezension von Ursula Reinhold


Angekommen im neuen Deutschland

Kerstin Jentzsch: Iphigenie in Pankow

Roman.

Desothron Verlagsgesellschaft, Erfurt 1998. 540 S.

 

Die junge ostdeutsche Autorin Kerstin Jentzsch legt mit diesem Titel den dritten Band ihrer „Lisa-Meerbusch-Trilogie“ vor, der die Geschichte einer offensichtlich autobiographisch inspirierten Figur vor und nach der Wende in den Mittelpunkt stellt. In Seit die Götter ratlos sind (1994) und in Ankunft der Pandora (1996) schuf sie sich bereits den Ausgangspunkt für den Geschehnisablauf des neuen Bandes, der sich zeitlich auf die Zeit nach der Wende konzentriert. In das mythologische Bild von der Ankunft der Pandora faßte die Autorin den zwiespältigen Ausgangspunkt ihrer Hauptfigur. Lisa erfuhr durch die Ermordung ihres Onkel Willi, daß sie nicht nur dessen Tochter ist, sondern durch seinen Tod auch die Millionenerbin eines Vermögens, das der seinen Verstrickungen in Stasi- Geschäfte verdankte. Er führte in der DDR ein unauffälliges Leben und machte auf internationalem Parkett Geschäfte für die DDR, indem er die Doppelexistenz eines wohlbestallten Geschäftsmannes in der Schweiz lebte, wobei er Gelder auf Privatkonten abzweigte. In Ankunft der Pandora nutzte die Autorin diesen Anlaß, um über die familiäre Geschichte im Kontext von DDR-Entwicklung zu erzählen. Im neuen Buch, Iphigenie in Pankow, bildet das Millionenerbe den Ausgangspunkt für eine zwischen 1991 und 1998 angesiedelte Handlung. Die Erzählabschnitte datiert die Autorin nach der Anzahl der Tage, die seit der Einheit vergangen sind. Dabei gibt es in der verzweigten Handlung Rückgriffe und Zeitgleiches, nur das Güstrow Kapitel reicht in die DDR-Jahre zurück. Der Handlungsfaden spinnt sich um Lisa, die nunmehr die Millionenerbschaft antritt und mit dem langen Arm der Stasi-Offiziere im besonderen Einsatz (Oi. b. E.) konfrontiert wird. Deren langen Arm spürt sie überall. Sie sucht nach dem Mörder ihres Vaters, sieht sich mit einer internationalen Bande konfrontiert, gegen die sie sich durch Bodyguards zu schützen sucht, wird Jägerin und Gejagte in einem.

Kerstin Jentzsch versteht es auch im dritten Band, temporeich und handlungsintensiv zu erzählen, durch häufigen Orts- und Schauplatzwechsel äußere Spannung zu erzeugen. Erzählt wird in einer platten und zeitverhafteten Sprache, die distanzlos von PR-Kampagnen, Events, Führungsstil redet. Dabei zeichnet sie ihre Protagonistin Lisa Meerbusch als rechten Tausendsassa. Was sie anpackt, gelingt, sie vereint östliches Gemüt und westliche Cleverness. Ein wahrhaft zukunftsweisender Entwurf, wenn er nur nicht so unfreiwillig komisch wäre. Lisa wird als östlich sozialisierte Frau vom Drang nach Aufklärung und ausgleichender Gerechtigkeit für Schuldige und Opfer angetrieben. Zugleich ist sie in den Jahren nach der Wende, die Handlung setzt 1998 ein und geht bis ins Jahr 1991 zurück, im Alltag der Bundesrepublik angekommen. Sie will mit den ererbten Millionen in Erfurt, Gotha, im thüringischen Umland, im Süden Kretas und auf der Insel Gavros Hotels einrichten und jettet zu diesem Zwecke zwischen den Fischerdörfern auf griechischen Inseln, Hauptstädten und Hotels hin und her. Zudem erleben wir sie an verschiedenen Plätzen Berlins, in London, Zürich und Paris. Zugleich sorgt sie dafür, daß ihre Erfurt-Omi in einem anständigen Heim untergebracht wird, richtet deren 80. Geburtstag aus, den sie nebenbei als familiäres Versöhnungsfest arrangiert, tröstet im heimatlichen Berlin ihre Mutter über die Redaktionsquerelen der Nachwendezeit und hilft dem Großvater in Biesenthal über die Schrecken anläßlich der Gefährdung seines Bungalows durch einen Gewerbepark hinweg. Sie besucht Parties, die ostdeutsche Wendegewinner veranstalten, und verkauft Zeitungen auf dem Bahnhof Lichtenberg, weil sie hier des Mörders und einstigen Verführers ihres Vaters habhaft zu werden hofft. Zum mordenden Racheengel braucht sie nicht zu werden, das erspart die Autorien ihr und uns. Denn Manfred Kronbecher, der allgegenwärtige und mächtige Führungsoffizier ihres Vaters, dem andere noch immer gehorchen, kommt durch einen Unfall zu Tode. Außerdem ist Lisa noch mit ihrem Großvater in Auschwitz und Birkenau unterwegs und vermittelt uns aus den Archivunterlagen den Einsatzplan, den die Stasi anläßlich des Besuchs von Bundeskanzler Schmidt in Güstrow im Jahre 1981 entworfen und realisiert hat. Die Autorin will viel, wie auch ihre Lisa, bei der wir es mit einer durchweg positiven Heldin zu tun haben. Das ist natürlich eine Erscheinung aus dem kulturellen Arsenal vergangener DDR-Zeiten. Heute, im neudeutschen Verständnis spricht man eher von einem echten Superweib, einer Power-Frau. Sie ist attraktiv, liebessehnsüchtig, aber entschlossen, ihre Pläne gegen männliche Widerstände auch da durchzusetzen, wo sie liebt. Bei der Organisierung ihrer Hotelkette „Atlantis“ erweist sie sich als geschickte und umsichtige Managerin, für die „machen“ das Zauberwort ist. Aber sie schaut nicht aufs bloße Geld, sondern will gastliche Häuser schaffen, in deren Ausstattung und Speiseplan regionalen Besonderheiten Rechnung getragen wird. Deshalb will sie das Gewerbe von der Pike auf kennenlernen, geht sozusagen in die Produktion, um von der Arbeit des Zimmermädchens bis zur Gastronomie in alles eingeweiht zu sein. Natürlich bezieht sie die heimischen Gewerbe in ihre Pläne ein, will den „Eingeborenen“ Arbeit schaffen und begegnet ihren Angestellten mit sozialer Verantwortung. Ihre Hotelpläne stellen sich für die griechischen Inseln als wahres Glück dar, auch wenn die Griechen das noch nicht wissen wollen. Ihrer östlichen Sozialisation verdankt sie Gemüt und soziales Gewissen. Dazu ist sie freizügig im Erotischen, aber keine Sex-Besessene wie ihre westlich sozialisierte Doppelgängerin, eine gescheiterte Schauspielerin. Diese Elisabeth läßt sich durch Geld verführen, wird das Double von Lisa, die gerade einem Attentat entkommen ist. Als die verführbare Westfrau an ihrer Stelle von der internationalen Stasi-Bande ermordet wird, ist Lisa natürlich traurig und voller Gewissensskrupel. Östliches Erbteil ist auch die soziale Gewissenhaftigkeit, mit der sie sich um ihre Angestellten und Freunde, um Verwandte und Bekannte kümmert. Der Prolog des Buches setzt mit einem Überfall auf eine Zeitungsfrau in Berlin-Prenzlauer Berg ein. Die alte Frau bleibt ohne Hilfe, weil Lisa, ihre Mitbewohnerin, nicht da ist. Sie ist international unterwegs, um Arbeitsplätze zu schaffen, was die alte Frau aber nicht wissen kann.

Die Autorin ist eine wendige Schreiberin. Aber man wünscht sich eine Auseinandersetzung mit ostdeutscher Vor- und Nachwendeerfahrung weniger kolportagehaft. Die Behandlung des Stasi-Themas ähnelt den Polit-Thrillern im Fernsehen, in denen kriminalistische Verwicklungen aus weiterwirkenden Stasi-Machenschaften erwachsen, gerade so, als hätten Wirtschafts kriminelle nur auf die Stasi gewartet. Die mythologischen Bezüge, auf die der Titel hinweist, verdanken sich dem Kreta-Schauplatz. Allerdings bleiben sie ziemlich äußerlich, es gibt weder thematische noch strukturelle Bezüge, die der Figur der Lisa historische oder mythologische Tiefenschärfe geben. Iphigenie als Superfrau, eine Geburt der Nachwendezeit, in der sich östliches Gemüt und westliche Power miteinander verbinden. Aber sicherlich ist alles gut gemeint.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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